Wenn Kinder Opfer von Missbrauch in der Familie werden, schweigen sie oft. Weil sie nicht wissen, dass es falsch ist, was ihnen widerfahren ist, weil sie sich schuldig fühlen oder aus purer Angst. Und oft ist da auch gar niemand, der diesen Kindern wirklich zuhört, ihnen glaubt.
Ich war wie versteinert und wagte nicht, richtig hinzuschauen
Chloé Rios (22) ist sieben Jahre alt, als sie von ihrem Vater missbraucht wird. Das kleine Mädchen nimmt die Drohungen ihres Vaters ernst, dass er sie umbringt, wenn sie etwas sagt. Sie leidet unter Alpträumen. Erst als sich die Eltern scheiden lassen, kann sie ihr Schweigen brechen. Mit der Hilfe ihrer Mutter zeigt sie den Vater an, er wird verurteilt.
Claire (16) (Name geändert) muss als Kind immer wieder Übergriffe ihres Vaters erdulden. Als Teenagerin beginnt sie sich zu wehren, realisiert, dass es nicht normal ist, was der Vater mit ihr macht.
Er schlief bei mir und berührte mich, so als wäre nichts dabei
Als die Eltern sich trennen, weigert sich das Mädchen beim Vater zu übernachten. Die Behörden werden eingeschaltet und das Mädchen beginnt zu reden. Claire hat ihren Vater angezeigt, das Verfahren läuft noch.
Marie Sprunger (44) ist in einem kleinen, religiös geprägten Dorf im Berner Jura aufgewachsen. Themen wie häusliche Gewalt oder Inzest waren tabu.
Meine Mutter schaute zu, während mein Vater mich missbrauchte.
Der Vater schlägt und missbraucht Marie und ihre vier Geschwister. Besonders schlimm: die Mutter weiss davon, sie gibt sogar die Befehle dazu. Bis heute ist Marie die Einzige der vier Geschwister, die über die schrecklichen Taten redet. Von ihrer Familie wird sie dafür geächtet.
Auch Sarah Briguet (51) hat jahrzehntelang geschwiegen. Die ehemalige Miss Schweiz und heutige Radiomoderatorin ist von ihrem Vater mehrfach missbraucht worden. Als Jugendliche kann sie sich niemandem anvertrauen. Die Mutter will nichts hören.
Ich hatte Angst, man würde sagen, es sei nicht wahr.
Die Missachtung in der eigenen Familie treibt Sarah dazu, Bestätigung in der Öffentlichkeit zu suchen, aber das Gefühl von Leere bleibt. Heute setzt sich Sarah, Mutter zweier Kinder, für Prävention ein. Sie ist Patin von «Patouch», einer Vereinigung, die sich an Westschweizer Schulen für den Kampf gegen Gewalt einsetzt.
Michèle Chaillet (72) ist fünf Jahre alt, als ihr Onkel sie während eines Ferienurlaubs am Meer sexuell missbraucht. Ein derart traumatisches Erlebnis für das Mädchen, dass sie sich ihr halbes Leben lang an nichts mehr erinnert.
Für ihn war es eine Liebesgeschichte, etwas Wunderschönes.
Es bleiben nur flüchtige Bilder zurück, die sie heimsuchen. Erst als sie ihren Peiniger kurz vor dessen Tod konfrontiert und er gesteht, schafft sie es, ihre Geschichte aufzuarbeiten.
Fünf unterschiedliche Frauen, die alle als Kinder Schlimmes erlebt haben. Sie entwickelten für Inzestopfer typische Störungen wie chronische Depressionen, Selbstverletzungen oder Selbstmordversuche.
Doch Chloé, Claire, Marie, Sarah und Michèle haben es geschafft, ihr Schweigen zu brechen und für sich einzustehen. Sie sehen sich heute nicht als Opfer – sie bezeichnen sich als Überlebende, als Kämpferinnen. Ihre stärkste Waffe ist das Wort.