Rosa Neuhaus ist eine von über 45'000 Corona-Infizierten in der Schweiz. Die 87-Jährige steckte sich zu Beginn der Krise im Pflegeheim Aergera im Kanton Freiburg an. Fast jeder dritte Bewohner war positiv. «Wir waren lange Zeit im Blindflug», sagt Heimleiter Daniel Corpataux. Im März während des Lockdowns waren die Testkriterien streng, ausserdem fehlten Schutzmasken.
Corpataux: «Das ganze System hat versagt!» Einerseits konnte der Kanton Freiburg den Heimen zu Beginn der Krise nur wenige Masken liefern, andererseits verfügte die Aergera nicht über den empfohlenen Drei-Monats-Vorrat. So steht es im nationalen Pandemie-Plan. «Nein, den kannte ich nicht», der Heimleiter schüttelt den Kopf.
Eine Vorschrift hätte zu Widerstand bei den Institutionen geführt.
Das Beispiel des Pflegeheimes Aergera zeigt die Folgen der Pandemie-Planung Schweiz. Über Jahre hinweg stritten sich Bund, Wirtschaft und Kantone darüber, wer die Kosten für Masken-Lager übernehmen soll. Die Empfehlung zur Vorratshaltung: ein gut schweizerischer Kompromiss. Beim Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) sagt Ueli Haudenschild: «Eine Vorschrift hätte zu Widerstand bei den Institutionen geführt».
Fehlender Durchsetzungswille
Nicht zufrieden mit dieser Erklärung ist der Berner Professor für Gesundheitsrecht Christoph Zenger: «Das Amt ist den Weg des geringsten Widerstandes gegangen». Empfehlungen seien ein beliebter Ausweg, wenn eine Verwaltung sich nicht die Finger verbrennen wolle. Aber die wirtschaftliche Landesversorgung stehe in der Verantwortung.
Wenn keine Lösung mit Masken-Importeuren oder den Kantonen zustande komme, müsse das Geschäft im Departement eskaliert oder ein Budgetantrag für ein Lager gestellt werden. Im DOK-Interview scheint der langjährige Beamte Ueli Haudenschild nicht zu wissen, dass der Bund eigene Vorräte anlegen kann, wenn private Firmen dazu nicht imstande sind.
Vorsorge ist primär Sache der Wirtschaft
Haudenschilds Haltung entspricht der Organisation und dem Geist der wirtschaftlichen Landesversorgung. Laut Gesetz ist die Landesversorgung nämlich zuerst Sache der Wirtschaft. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL ist mit 34 Beamten sehr klein und dient nur als Sekretariat für eine viel grössere Wirtschaftsmiliz.
Rund 250 Fachleute aus der Wirtschaft machen Vorgaben, für welche Produkte Pflichtlager angelegt werden sollen. Über diese Vorgaben entscheidet der Bundesrat. In den letzten 30 Jahren ist er den Vorgaben der Wirtschaftsspezialisten stets gefolgt. Gemäss Gesetz muss auch der Chef der Landesversorgung aus der Privatwirtschaft stammen, das Bundesamt führt er nur im Nebenamt.
Diese Struktur zeige, dass dem Amt eine marginale Bedeutung zukomme, sagt Gesundheitsrechtsprofessor Christoph Zenger. Es zeige auch die Bedeutung der Krisenvorsorge in einem seit dem Zweiten Weltkrieg bisher krisenverschonten Land.
Kehrtwende bei Pflichtlagerhaltung
Bis Ende 2018 hatte der Bund ein Reservelager für Ethanol beim bundeseigenen Profitcenter Alcosuisse. Mit der Privatisierung von Alcosuisse und der Liberalisierung des Ethanolmarkts wurde es aber aufgelöst. Eigentlich waren sich Alcosuisse und die Landesversorgung einig, dass ein neues Pflichtlager geschaffen werden muss. Noch einen Monat vor der Liberalisierung schrieb das BWL: Der Prozess für eine Pflichtlagerhaltung werde «mit einem Antrag an den Bundesrat» anfangs 2019 gestartet.
Damals dachten wir, eine Pandemie komme langsam, so dass die Lieferketten weiterhin funktionieren.
So weit kam es dennoch nicht: Im Februar 2019 entschieden die Chemie- und Pharmaspezialisten der Wirtschaftsmiliz gegen ein Pflichtlager. «Damals dachten wir, eine Pandemie komme langsam, so dass die Lieferketten weiterhin funktionieren», sagt Daniel Rickenbacher, Leiter des Fachbereichs Chemie. Auf Nachfrage bestätigt er, dass Pflichtlager für Firmen nicht rentabel seien. Einen Interessenskonflikt der Wirtschaftsmiliz, die über Lager bestimmt, sieht er dennoch nicht.
Krisen-Ethanol: Beigemisch für Benzin
Insider sagen, nach dem abschlägigen Entscheid der Chemie- und Pharmafirmen hätten die Beamten letztes Jahr das Thema Pflichtlager weiter sondiert bei Herstellern von Desinfektionsmitteln und bei Firmen im Ernährungsbereich – Resultate hatte man offenbar noch keine, als die Pandemie ausbrach.
Es war ein Riesenaufwand, Chargen zu finden, die nicht mit Benzin kontaminiert sind.
Die Nachfrage nach Ethanol explodierte weltweit, und weil es das Reservelager über 10'000 Tonnen Ethanol nicht mehr gab, entstand zu Beginn der Krise ein Engpass beim Ethanol für die Herstellung von Desinfektionsmitteln. Das Bundesamt für Gesundheit musste eine Notverordnung erlassen, damit Alcosuisse minderwertiges Ethanol importieren konnte. Es handelt sich um Ethanol, das üblicherweise dem Benzin beigemischt wird. «Es war ein Riesenaufwand, Chargen zu finden, die nicht mit Benzin kontaminiert sind», sagt Alcosuisse-CEO Florian Krebs.
Wirtschaftliche Landesversorgung wird untersucht
Der Alcosuisse-Chef versichert, dass das Krisenethanol gesundheitlich unbedenklich ist. Nur sein Geruch sei speziell. Das Krisenethanol ist ein Mix aus Traubentrester und Getreide. Überwiegt der Traubenanteil riecht er ähnlich wie Grappa, überwiegt der Getreideanteil riecht er faulig.
Und wie bewerten die Wirtschaftsspezialisten ihren Entscheid gegen ein Pflichtlager heute? «Suboptimal», sagt Unternehmer Daniel Rickenbacher. In Windeseile wurde darum in den letzten Monaten eine Vorlage für ein neues Reservelager geschaffen. Unterdessen hat das Parlament dem Kredit über 5,82 Millionen zugestimmt. Schon vor der Pandemie hat Wirtschaftsminister Guy Parmelin eine Administrativuntersuchung über die Struktur der wirtschaftlichen Landesversorgung in Auftrag gegeben.
Die Stärke der Schweiz – in der Krise eine Schwäche
Die wirtschaftliche Landesversorgung und das Bundesamt für Gesundheit sind hauptverantwortlich für die Pandemie-Vorsorge. Im Gesundheitswesen liegt der Gesetzesvollzug aber bei den Kantonen.
Der Föderalismus zeigt sich beim Contact Tracing: Die Kantonsarzt-Ämter arbeiten mit fünf verschiedenen Programmen, um die Kontakte von Infizierten zu erfassen. Sie sind untereinander nicht vernetzt. Das erschwert und verlangsamt den Datenaustausch. Das Virus aber kennt keine Kantonsgrenzen. Gesundheitsrechtsprofessor Zenger: «Der Föderalismus ist nicht krisentauglich».
In der Krise haben wir die koordinierte Verantwortungslosigkeit.
Er hat 2018 eine Analyse über die Aufgaben des Bundes während einer Epidemie geschrieben. Zenger kommt zum Schluss, dass die Zusammenarbeit von verschiedenen Bundesstellen, normalerweise eine Stärke der Schweiz, in der Krise zur Schwäche wird.
Die Organisation sei undeutlich, ebenso die Zusammenarbeit mit den Kantonen. Zenger: «In der Krise haben wir die koordinierte Verantwortungslosigkeit». Er schlägt deshalb vor, die Kantone zukünftig im Krisenfall auszuschalten. Der Bund solle den Spitälern direkt Weisungen zur Vorratshaltung erteilen, im Gegenzug solle er die Lagerhaltung finanzieren.
Ist das nicht ein ketzerischer Vorschlag in der föderalistischen Schweiz? Christoph Zenger lächelt. Noch bis Dezember hätte er sich keine Chancen ausgemalt. Nach dieser Krise aber halte er seinen Vorschlag für diskussionswürdig.