Hausi ist 70 Jahre alt und seit zwei Jahren obdachlos. Früher führte er ein geregeltes Leben im Berner Oberland, arbeitete 47 Jahre als Koch. Kurz vor seiner Pensionierung hat er sich selbstständig gemacht und löste dafür seine Pensionskasse auf.
Gleichzeitig hat er sein Fussgelenk operieren müssen. Eine kleine Operation mit fatalen Folgen. Durch eine Infektion lag er danach acht Wochen im Koma.
Im Anschluss prozessierte er gegen das Spital. Unter anderem durch die Anwaltskosten gerät er in finanzielle Schieflage: Er verlor seine Wohnung und lebt seitdem auf der Strasse in Zürich. Dabei wird er immer wieder mit Gewalt konfrontiert: «Dreimal hatte ich Glück, dass sie mich nicht niedergemacht haben. Sechs junge Leute wollten mir den Rucksack stehlen.»
In Zürich übernachten rund 60 Menschen im Freien, weitere 200 schlafen in Institutionen wie dem «Pfuusbus» vom Sozialwerk Pfarrer Sieber. Schätzungsweise 2200 Menschen sind in der Schweiz von Obdachlosigkeit betroffen und etwa 8000 Menschen von Wohnungsverlust bedroht. Das zeigt eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz aus dem Jahre 2022.
Obdachlosigkeit ist eine Abwärtsspirale
Wie kommt es, dass Menschen in einem wohlhabenden Land wie der Schweiz ohne Wohnung dastehen? Der Druck auf Armutsbetroffene nimmt zu, die Kosten für das tägliche Leben steigen und der Wohnungsmarkt ist seit Jahren unter Druck.
Man kann relativ schnell durch die sozialen Netze fallen.
Oft sei es schlussendlich eine Kaskade, die Menschen in die Obdachlosigkeit führt, sagt Barbara Leuthold, Leiterin des «Pfuusbus»: «Eine klassische Geschichte ist Trennung, Depression, Alkohol, Jobverlust, Wohnungsverlust. Man kann relativ schnell durch die sozialen Netze fallen.»
Obdachlosigkeit ist ein Prozess, der einer Abwärtsspirale gleicht. Menschen, die davon betroffen sind, erleben es zuerst oft als einen vermeintlichen Befreiungsschlag. Sie müssen sich erst einmal um nichts mehr kümmern.
Dann aber wird vielen klar, wie beschwerlich das Leben auf der Strasse ist. «Das Leben auf der Gasse ist hart. Man wird bepöbelt und ausgeraubt», erklärt Gassenarbeiterin Franziska Kaguembega-Müller.
Obdachlosigkeit betrifft vor allem Männer
Rund 80 Prozent der obdachlosen Menschen in der Schweiz sind Männer. Das ergab eine Studie 2022 von «LIVES – Swiss centre of expertise in life course research». Ein Viertel der obdachlosen Menschen pflegt keine engen Freundschaften, ein Drittel hat keinen Kontakt zur eigenen Familie.
«Frauen haben ein besseres soziales Netzwerk. Sie können leichter Hilfe annehmen und sich schneller in neuen Situationen zurechtfinden», erläutert Franziska Kaguembega-Müller diese Diskrepanz.
In der Schweiz gibt es viele Institutionen, welche rund um die Obdachlosigkeit angesiedelt sind. In rund 20 Städten gibt es Notschlafstellen, vielerorts gibt es Essensausgaben und Gassenküchen.
Die Krux mit der Bürokratie
Viele Angebote sind an Auflagen geknüpft, damit sie genutzt werden können. Dieser Tatsache steht Gassenarbeiter Tom Moldovanyi kritisch gegenüber: «Du hast immer Anforderungen. Du musst Papiere einreichen, einen bestimmten Umgang pflegen, und viele schaffen das einfach nicht.»
Besonders für Menschen mit Sucht- oder psychischen Erkrankungen ist es oft nicht möglich, den gestellten Forderungen nachzukommen. Sie wollen und können sich nicht mehr in unsere Gesellschaft einfügen. Sie steigen aus.
Gassenarbeiter Tom Moldovanyi betont daher, wie wichtig es sei, «niederschwellige Angebote» zu schaffen. Angebote, die ohne grosse Hürden und bürokratische Anforderungen zugänglich sind.
Zu viele unüberwindbare Hürden
Übernachtungsmöglichkeiten sind oft an Bedingungen geknüpft. So auch in der Stadt Zürich. Die Notschlafstelle ist nur für Personen zugänglich, die auch in der Stadt Zürich gemeldet sind. Um Zugang zum «Pfuusbus» zu bekommen, muss man in der Schweiz gemeldet sein oder die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen.
Die Nachfrage nach notfallmässigen Übernachtungsmöglichkeiten steigt in der Schweiz von Jahr zu Jahr an. Der «Pfuusbus» beispielsweise hatte in der letzten Saison 30 Prozent mehr Übernachtungen als noch in der Saison davor.
Laut der Leiterin vom «Pfuusbus», Barbara Leuthold, kommen immer mehr Menschen mit einer psychischen Erkrankung zu ihnen. Das hätte mit der Überlastung der Psychiatrien einen Zusammenhang. «Grundsätzlich würden wohl alle irgendwo in einer Institution Platz finden. Aber wenn du auf der Gasse bist, bleibt dir nur noch die Autonomie. Und in einem betreuten Wohnen musst du dich Regeln beugen. Das halten viele nicht aus.»
Ich brauche niemanden, der mich bemuttert.
Obdachlosigkeit ist auf den ersten Blick eine freiwillige Entscheidung. Aber unter der Oberfläche liegt bei vielen eine verworrene, komplizierte Lebensgeschichte, geprägt von Verletzungen und psychischen Belastungen. Obdachlosigkeit ist ein stufenweiser Prozess, Betroffene fallen schrittweise aus dem System.
Der Berner Oberländer Hausi hat von seinem privaten Umfeld schon mehrfach Hilfe angeboten bekommen. Aber er will diese nicht annehmen. Hausi will es alleine schaffen, sein Ziel: raus aus den Schulden, rein in eine eigene Wohnung irgendwo im Grossraum Zürich.
«Meine Schwester sagte mir, ich soll zu ihr kommen, aber das will ich nicht. Sie hat vier Kinder gross gezogen, da muss ich nicht als altes Kind auch noch dazukommen», so Hausi. Und auch von seiner Tochter will er sich nicht helfen lassen: «Sie hat ihr Leben und ich meines. Ich brauche niemanden, der mich bemuttert.»
Er will unabhängig bleiben. Und schon gar kein Opfer sein: «Ich wünsche mir, dass ich nicht mehr auf der Strasse leben muss. Einfach, dass es wieder normal wird. Und ich eines Tages wieder von zu Hause aus an ein Schwingfest gehen kann.»
Hausi ist überzeugt, dass er es aus eigener Kraft schafft, vom Leben auf der Strasse wegzukommen. Weg von einem Leben irgendwo zwischen Einsamkeit und Hoffnung.