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Im Heim für psychisch Beeinträchtigte – wie ist Selbstbestimmung möglich?
Aus Mona mittendrin vom 18.10.2023.
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Psychische Beeinträchtigung Wie viel Selbstbestimmung ist im Wohnheim möglich?

Ein selbstbestimmtes Leben führen, das ist der Traum von Severin Balmer (21). Doch wegen seiner psychischen Beeinträchtigung ist das noch nicht möglich.

Auf den ersten Blick scheint Severin Balmer ein gewöhnlicher junger Erwachsener zu sein: Er ist viel am Handy und chattet mit seiner Freundin, er hört gerne Musik und geht an Konzerte.

Auch grosse Träume hat er, Auswandern nach Spanien oder Sizilien. Und: Gerne würde er eine Lehre machen, «am liebsten im Service oder in der Logistik».

Doch eine Lehre ist für den Einundzwanzigjährigen momentan nicht möglich. Auch selbstständig Wohnen ist aktuell kein Thema.

Denn Severin hat neben Epilepsie eine psychische Beeinträchtigung und lebt im Schlossgarten Riggisberg (BE).  

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Wunsch nach einer Ausbildung
Aus Mona mittendrin vom 18.10.2023.
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Im Schlossgarten kann Severin arbeiten – auch ohne Lehre. Jeweils am Vormittag arbeitet er für drei bis vier Stunden im Backoffice des Schlossgarten-Restaurants.

Dass er irgendwann eine Lehre machen kann, das ist nicht ausgeschlossen, meint Ursula von Bergen, Co-Leiterin Begleitung und Entwicklung vom Schlossgarten. Doch für den Moment ist es von der Belastung her noch nicht möglich. 

Die Arbeit hier gefällt mir, das Wohnen aber nicht so, weil es hier nur ältere Leute hat.
Autor: Severin Balmer Lebt im Schlossgarten Riggisberg (BE)

Rund 270 Personen leben und arbeiten im Schlossgarten Riggisberg. Severin wohnt zusammen mit 17 Bewohnerinnen und Bewohner auf einer Wohngruppe.

Jeder hat ein Zimmer, Dusche und WC ist auf dem Gang. Gegessen wird zusammen. Frei wählen, wie oder mit wem man wohnen möchte, ist in einem Heim nur bedingt möglich.  

«Die Arbeit hier gefällt mir, das Wohnen aber nicht so, weil es hier nur ältere Leute hat», sagt Severin.

Der Weg in die Selbständigkeit 

Gekocht wird für alle Bewohnenden, auch die Wäsche wird ihnen gewaschen. Doch ein Hotel soll es nicht sein. Hier hat jeder und jede ein Ämtli, zu bequem soll es nicht werden.

Die Wohngruppe ist die Anfangsstufe der Selbstständigkeit.
Autor: Katinka Scherer Mitarbeiterin in der Pflege

Während früher ein Heim oft eine Endstation war, ist heute gerade bei jüngeren Menschen wie Severin das Ziel, dass diese den Weg zurück in die Selbstständigkeit finden.

«Die Wohngruppe ist die Anfangsstufe der Selbstständigkeit», erklärt Katinka Scherer, Mitarbeiterin in der Pflege. «Wenn sich hier ein Bewohner oder eine Bewohnerin ihre Kompetenzen erarbeitet hat, dann können sie in ein Studio wechseln.»

Doch dann kommen neben den Herausforderungen der Beeinträchtigung noch jene des Alltages hinzu. Und das könne auch Rückschritte auslösen. «Dann fängt man wieder von vorne an.»  

In der Gesellschaft haben wir gerne Ordnung.
Autor: Ursula von Bergen Co-Leiterin Begleitung und Entwicklung, Schlossgarten

Selber entscheiden, wo, wie und mit wem man wohnen möchte, für Menschen ohne Beeinträchtigung selbstverständlich – nicht aber für jene mit einer Beeinträchtigung.

Die Gründe sind vielschichtig und nicht einfach sofort lösbar. Zum einen fehlt es an Möglichkeiten und Angeboten, zum anderen braucht es auch ein Umdenken in der Gesellschaft.

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Wahlmöglichkeit in der Schweiz
Aus Mona mittendrin vom 18.10.2023.
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«Bei Menschen, die auffällig sind und gelegentlich stören, sieht man es halt gerne, wenn diese an einem Ort ‹deponiert› sind, wo zu ihnen geschaut wird und wo sie sauber angezogen werden. In der Gesellschaft haben wir gerne Ordnung», so Ursula von Bergen. Das sei natürlich sehr schwarz/weiss ausgedrückt, sie wünsche sich aber, dass sich die Gesellschaft gegenüber solchen Menschen öffne.   

Gleiche Rechte für alle 

Die Wohnform «Heim» entspricht streng genommen nicht den Vorgaben der UNO-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).

Diese besagt, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung die gleichen Rechte beanspruchen können wie jene ohne Beeinträchtigung.

Also zum Beispiel auch selber bestimmen können, welche Wohnform für sie die Richtige ist. Die Schweiz hat diese Konvention im Jahr 2014 ratifiziert.

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Wohnsituationen sollten wählbar sein
Aus Mona mittendrin vom 18.10.2023.
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Der Schlossgarten Riggisberg macht es sich zur Aufgabe, Menschen mit Beeinträchtigungen dabei zu unterstützen und ihre Möglichkeiten zu stärken.

«Ein Generationenprojekt», sagt Ursula von Bergen. «Wichtig ist, dass Wahlmöglichkeiten bestehen und dass unsere Bewohner auch neue Wohnformen ausprobieren können.»

Das Heim als Heimat 

Dass es aber auch in Zukunft Menschen geben wird, welche auf eine Wohnform in einem Heim angewiesen sind, das ist für Ursula von Bergen klar.

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Das ist die Situation von Gilon Goldmann
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Denn ein Heim kann Sicherheit und Stabilität bieten. Seit 20 Jahren lebt Gilon Goldmann im Schlossgarten Riggisberg.  

Ich wäre überfordert, wenn ich diese Begleitung nicht hätte.
Autor: Gilon Goldmann Bewohner Schlossgarten Riggisberg

In seiner Einzimmerwohnung lebt und kocht er selbstständig, zur Seite steht ihm eine Bezugsperson.

Er ist dankbar, dass er hier leben kann und gesund ist. «Ich wäre überfordert, wenn ich diese Begleitung nicht hätte», meint Gilon.

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Wie sind Beziehungen und Familie möglich?
Aus Mona mittendrin vom 18.10.2023.
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Zweimal pro Woche fährt er nach Bern ins Fechttraining und anschliessend gibt es noch ein Bier mit seinen Kollegen. Etwas, was er auf keinen Fall aufgeben will.

Trotz der Melancholie, die manchmal mitschwingt. Denn dort trifft er Freunde, die danach heimkehren zu ihren Familien, während er zurück ins Heim geht.

Mit kleinen Schritten Richtung selbstbestimmtes Leben. Wenn die Gesellschaft Menschen wie Gilon oder Severin noch ein paar Schritte entgegenkommt, sind auch sie bald mittendrin, anstatt irgendwo am Rand.

SRF 1, 18.10.2023, 21:00 Uhr

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