Nino freute sich auf die Schule. Er wollte endlich Neues lernen wie seine beiden grossen Geschwister. Doch bald schon kam die Enttäuschung – die Schule war so ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte: laut, chaotisch, langweilig. Im Klassenzimmer liess sich der intelligente Junge von seiner Frustration nichts anmerken.
Er war der Traum aller Lehrer – aufmerksam, hilfsbereit, fleissig. Zu Hause dann zeigte sich Nino von einer anderen Seite: Ein falsches Wort beim Nachtessen genügte, und er explodierte. Dann kippten Stühle, und Türen knallten, Nino demolierte sein Kinderzimmer. Seine Eltern standen vor einem Rätsel. Ninos Leiden an seiner Schulsituation wurde so gross, dass er sich mit sechs Jahren das Leben nehmen wollte.
Auch Kira fühlte sich unwohl in der Schule, reagierte auf Lärm und Reize mit unkontrolliertem Schreien. Damit sie sich besser konzentrieren konnte, arbeitete sie meist in einem separaten Raum. Doch auf dem Pausenplatz wurde Kira, welche die sozialen Regeln unter Gleichaltrigen nicht verstand, nicht akzeptiert, fand keinen Anschluss bei ihren Kameradinnen und Kameraden, fühlte sich fremd und falsch.
Die einen Kinder ecken an, die anderen passen sich an
Zwei Kinder, zwei Ausprägungen der Autismusspektrumstörung (ASS). Beatrice Gnaegi, psychosoziale Beraterin und Autismus-Expertin, beschreibt die zwei Haupttypen folgendermassen: Der oppositionelle Typ stört in der Schule und wird auffällig, Abklärungen kommen oft auf Anraten der Lehrpersonen in Gang.
Der ruhige Typ hingegen «funktioniert» in der Schule, weiss, was von ihm verlangt wird, er «maskiert», wie Experten und Expertinnen dies nennen. Besonders Mädchen sind Meisterinnen im Maskieren.
Zu Hause dann fällt die Maske, denn die Anpassung an den Schulalltag ist enorm kräftezehrend – das Kind lässt seinem Frust und seiner Erschöpfung freien Lauf. Lehrpersonen sehen nur ein angepasstes Kind, die Eltern dagegen erleben Aggression, Verzweiflung und Frustration ihres Kindes. «Oft kommt es dann zu Schuldzuweisungen den Eltern gegenüber, ihre Erziehungsfähigkeit wird infrage gestellt», sagt Beatrice Gnaegi.
Autisten und Autistinnen haben ein «anderes Betriebssystem»
Doch Schuldzuweisungen sind in beiden Fällen fehl am Platz. Denn Kinder im Autismusspektrum haben ein «anderes Betriebssystem», erklärt Beatrice Gnaegi. Dieses ist angeboren und hat nichts mit schlechter Erziehung zu tun.
So haben Betroffene Mühe, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und mit ihnen zu kommunizieren. Ungewohnte Situationen bereiten Menschen im Autismusspektrum Mühe, sich wiederholende Abläufe und Rituale hingegen geben ihnen Sicherheit.
Autistinnen und Autisten nehmen auch Sinneseindrücke anders wahr: Geräusche und Lärm erleben sie oft als viel störender als andere Menschen, es fehlen «Filter», welche sie bspw. wichtige Stimmen von unwichtigen unterscheiden lassen.
Dem Tuscheln der Banknachbarin kommt so die gleiche Bedeutung zu wie der Stimme der Lehrperson. Auch grelles Licht, Gerüche oder Berührungen können Autistinnen und Autisten sehr stören. Reizüberflutungen führen häufig zu einem Zusammenbruch, einem sogenannten «Meltdown», der sich in aggressivem Verhalten, Schreien, Wutausbrüchen, Selbst- oder Fremdverletzung äussert.
Blühen im richtigen Setting auf
Kira und Nino litten beide unter der Reizüberflutung in der Schule, ihre schulischen Laufbahnen nahmen aber absolut unterschiedliche Wege: Kira, die ihrer Überreizung mit Schreien Ausdruck verleiht, erhielt schon in der 1. Klasse den Sonderschulstatus. Sie hatte Klassenassistenzen an ihrer Seite, erlebte einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung und einen kurzen Abstecher in ein Sonderschulinternat.
Doch all diese Massnahmen brachten nicht den gewünschten Erfolg: Die sensible Kira litt weiter unter der Überreizung und ihrer Ungeübtheit im Umgang mit anderen Schülerinnen und Schülern. Sie besucht heute die Privatschule «Schola Anima Nova» in Elgg, wo sie in einem 1:1-Setting unterrichtet wird und grosse Fortschritte macht. Finanziert wird diese Lösung durch den Kanton Thurgau.
Nino hingegen glitt in eine Depression, die Situation zu Hause eskalierte. Von seiner Asperger-Diagnose wusste damals noch niemand. Nach einem Schnupperbesuch in einer Privatschule blühte Nino förmlich auf.
Um ihrem intelligenten Sohn die Versetzung in eine heilpädagogische Schule zu ersparen, welche die Schulbehörde für ihn vorgesehen hatte, entschieden sich Ninos Eltern für die kostspielige Variante Privatschule: Seine adäquate Förderung in der Tagesschule KiTs in Bronschhofen, die auf Kinder mit mittlerer bis hoher Begabung spezialisiert ist, kostet sie jedes Jahr 25'000 Franken. Dafür verzichtet die fünfköpfige Familie auf Ferien und jeglichen Luxus.
«Chancengleichheit ist in Gefahr»
Die Suche nach dem richtigen Schulsetting ist für betroffene Kinder und ihre Familien oft eine lange, schmerzhafte Odyssee. Regelschule, Sonderschulen, Internate werden «ausprobiert» und wieder abgebrochen. «Die sensiblen Kinder im Spektrum erleben eine negative Erfahrung nach der anderen, verbunden mit einem Gefühl des Scheiterns», erklärt Beatrice Gnaegi.
Es ist tatsächlich so, dass man vom Zweiklassensystem sprechen muss – die einen haben Glück und können sich eine Privatschule leisten, die anderen haben Pech und müssen irgendwie durch die Regel- oder Sonderschulzeit kommen.
Sie fordert deshalb eigene Schulen für Kinder im Autismusspektrum, die klein, überschaubar und ruhig sind. Die Praxis, dass Kinder in Privatschulen platziert werden, um ihnen die Sonderschule zu ersparen, gefährde die Chancengleichheit im Schulsystem: «Es ist tatsächlich so, dass man vom Zweiklassensystem sprechen muss – die einen haben Glück und können sich eine Privatschule leisten, die anderen haben Pech und müssen irgendwie durch die Regel- oder Sonderschulzeit kommen», moniert Gnaegi.
Für Kinder, auf deren besondere Bedürfnisse nicht eingegangen wird, kann ein falsches Schulsetting verheerende Auswirkungen haben: Ängste, Zwänge, Depressionen, Essstörungen und Schulverweigerung sind mögliche Folgen. Und es können ganze Familien auseinanderbrechen.
Denn bei Schulverweigerung wird nicht selten die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb eingeschaltet. Dann droht der Obhutsentzug.
Mit Aufklärung und den notwendigen Mitteln kann Integration gelingen
Doch es geht auch anders: «Wenn Elternhaus und Schule zusammenarbeiten und bei Lehrpersonen und Schulbehörden eine offene Haltung dem Thema «Autismusspektrumstörung» gegenüber vorhanden ist, kann die Integration von betroffenen Kindern gelingen», sagt Bettina Blättler von der Autismushilfe Ostschweiz.
Aus diesem Grund klärt sie Schulleitungen, Lehrpersonen und Schülerinnen sowie Schüler über die besonderen Bedürfnisse von Kindern im Autismusspektrum auf.
Aber all das nütze nichts, wenn die notwendigen finanziellen Mittel nicht gesprochen werden. Und dafür sei die Bereitschaft oft noch zu gering. «Es gibt Kantone, in denen zusätzliche Heilpädagogikstunden und Klassenassistenzen finanziert werden, in anderen Kantonen ist man noch nicht so weit», sagt Blättler. Dabei könnte viel Leiden verhindert werden, wenn Lehrpersonen im Umgang mit betroffenen Kindern intensiver unterstützt und geschult würden.
Auch Regula Buehler vom «Verein Autismus deutsche Schweiz» sieht eine Hauptaufgabe von Schulen, Lehrpersonen und Arbeitgebern darin, das Stresslevel für Autisten und Austistinnen zu senken.
Schon mit kleinen Anpassungen könne viel erreicht werden, sagt Regula Buehler: «Für Kinder im Spektrum, die sich bspw. in den turbulenten Pausen auf dem Schulhausplatz gestresst fühlen, könnte eine andere Form der Pause, zum Beispiel in einem speziellen Raum, eine grosse Unterstützung sein.»
Oder auch eine Markierung auf dem Boden rund um das Pult eines betroffenen Kindes, das sich durch Körperkontakte unwohl fühlt, könne Stress merklich reduzieren, sagt die Geschäftsleiterin des Vereins «Autismus deutsche Schweiz».
Individuelle Lösungen sind nötig
Regula Buehler warnt jedoch vor einfachen Pauschallösungen: «Jedes Kind im Spektrum muss individuell betrachtet und gefördert werden.» Die Platzierung in einer passenden heilpädagogischen Schule könne für das eine Kind sehr unterstützend sein, für ein anderes sei die Regelschule mit individuellen Anpassungen der richtige Ort. Und: «Neben den Akteuren in der Schule müssen auch Politik und Gesellschaft aktiv werden, sich informieren, die Bedürfnisse von autistischen Personen erkennen und Lösungen erarbeiten», erklärt Buehler.