SRF DOK: Sie haben einen Film über die ultraorthodoxe Gesellschaft in Israel gedreht. Was interessiert Sie daran?
Bethsabée Zarka: Ich habe nie so richtig realisiert, wie extrem gewisse Gruppierungen unter den Ultraorthodoxen sind. Bis zu dem Tag, als ich ein Video der extremistischen Gruppierung «Naturei Karta» sah, welche am Nationalfeiertag die israelische Flagge verbrannte. Das war 2009.
Ich wollte die anti-zionistische Haltung dieser Gruppierung erforschen – denn sie schien mir sehr paradox. Die Ultraorthodoxen verneinen den Staat Israel seit seiner Gründung – da er durch die Menschen erschaffen wurde. Der Staat Israel in seiner heutigen Form ist für sie reinste Ketzerei.
Doch auch der «Mainstream» der Ultra-Religiösen kämpft auch heute noch in vielen Belangen gegen die Grundlagen des Staates. Der Kampf um den Militärdienst ist sinnbildlich für diesen Widerstand gegen den Staat. Es kommt für die Ultraorthodoxen nicht in Frage, dass sie sich einem Diktat durch einen Staat unterwerfen, welcher von Menschen verteidigt wird.
Kein einfaches Unterfangen, in diese Welt einzudringen. Wie haben Sie Vertrauen gewonnen?
Ich hatte immer wieder Kontakt zu einigen Familien, zu jungen Mädchen und zu Lehrern aus ultraorthodoxen Kreisen. Alle waren sehr freundlich, haben meine Fragen am Telefon beantwortet und mich sogar zu sich eingeladen, damit ich mehr über ihre Welt erfahren konnte. Die Bedingung war aber immer: ohne Kamera, denn das ist ihnen total fremd. Sie leben komplett ohne jegliche moderne Hilfsmittel – kein Mobiltelefon, kein Internet, kein Fernsehen, kein Kino. Sie misstrauen der Modernität, wollen sie nicht in ihr Leben lassen, und sie wollen ihre Kinder davor bewahren. Deshalb wollten sie auch keine Kamera in ihr Zuhause lassen.
Dann traf ich Yonathan Steinberger, einen Familienvater, der mir seine Türen öffnete. In seiner Jeschiwa (jüdische Hochschule) unterrichtet er auch junge Männer, die zur Religion zurückkehren. Vielleicht auch deshalb war Yonathan sehr offen, auch mir als Frau gegenüber. Und er hatte den Wunsch, den Alltag einer ultraorthodoxen Familie zu zeigen. Er ist sympathisch und für die Gesellschaft, in der er lebt, auch sehr liberal. Er bekommt zum Beispiel an jedem jüdischen Feiertag Besuch von seiner Schwester, welche die ultraorthodoxe Gemeinschaft verlassen hat, um ihre Homosexualität in Tel Aviv frei leben zu können. Er lädt sie immer mit seiner Partnerin ein, und sie hat weiterhin einen guten Kontakt zur Familie.
In der israelischen Bevölkerung findet eine Polarisierung statt – können Ultraorthodoxe und Säkulare nicht mehr wie früher friedlich nebeneinander leben?
Die ultraorthodoxe Bevölkerung wächst rasant: 6,5 Kinder pro Frau im Gegensatz zu 3,5 Kinder bei der durchschnittlichen Israelin. Die Ultraorthodoxen beanspruchen immer mehr Raum. So sind in Jerusalem auch die Viertel im Norden von Mea Shearim alle ultraorthodox geworden, schleichend über die Jahre hinweg. So auch das Viertel Maalot Dafna, wo Yonathan Steinberger mit seiner Familie lebt.
Der Mechanismus ist so: In den Vierteln lassen sich immer mehr Ultraorthodoxe nieder und ziehen somit noch mehr Gleichgesinnte an. Die Nicht-Religiösen oder moderat Religiösen verlassen diese Viertel, weil sie sich nicht dem strengen Regime unterordnen wollen.
Im Viertel Kiryat Yovel zum Beispiel versuchten die Ultraorthodoxen die Ausstrahlung eines Filmes in einem Kulturzentrum zu verhindern, weil er am Schabbat, dem Ruhetag der Juden, ausgestrahlt werden sollte.
Gibt es denn keine Politiker, die dieser Entwicklung entgegenwirken?
Die israelische Politik hat viel mit Wahltaktik zu tun. Dieses Phänomen ist vor allem in Jerusalem frappant. Dort sind 30 Prozent der Stimmbevölkerung Ultraorthodoxe. Der Bürgermeister – ursprünglich ein nicht religiöser Kandidat – verteidigt heute die Anliegen der Ultraorthodoxen und nicht mehr die der Säkularen. Aber es gibt Politiker, die das Thema ganz konkret angehen.
Yair Lapid und seine Partei «Yesh Atid» zum Beispiel haben eine Abstimmung zum obligatorischen Militärdienst für Ultraorthodoxe durchführen lassen – und sie wurde angenommen, Ultraorthodoxe hätten im Militär dienen sollen. Aber Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat dann das Gesetz so überarbeiten lassen, dass jene, die in einer Jeschiwa studieren, keinen Militärdienst leisten müssen – und das ist ja praktisch die gesamte ultraorthodoxe Gemeinschaft. Netanjahu braucht die Ultraorthodoxen für seine Regierungskoalition.
Weshalb gibt es in Israel bis heute keine zivilen Eheschliessungen und Scheidungen?
Das geht zurück zur Staatsgründung und dem Engagement des ersten Premierministers David Ben Gurion. Er hat 1947 den Religiösen zugesichert, dass sie keinen Militärdienst leisten müssen, dass sie finanzielle Unterstützung erhalten, wenn sie die Torah lernen anstatt zu arbeiten. Er hat ihnen auch die Regelungen bei Eheschliessungen und Scheidungen anvertraut und ihnen zugesagt, dass der öffentliche Verkehr am Samstag wegen des Schabbats ausgesetzt wird. Aber damals, bei der Staatsgründung, waren die Ultraorthodoxen eine kleine Minderheit. Heute sind sie eine Million Menschen oder zehn Prozent der israelischen Bevölkerung.
Als die Partei «Yesh Atid» noch in der Regierung war, haben die Abgeordneten vorgeschlagen, zivile Eheschliessungen einzuführen. Diese gibt es in Israel nicht. Jeder israelische Bürger ist abhängig von den religiösen Gerichtsauslegungen seiner Religion: Die Juden vom Rabbinat, die 20 Prozent der arabischen Israelis von der Scharia, die Christen von der Kirche. Nach deren Auslegungen werden Heirat und Scheidungen geregelt.
«Yesh Atid» hat es aufgrund der Opposition der Ultraorthodoxen nicht geschafft, ihre Motion durchzubringen. Die ganze Koalition von Netanjahu hat die ultraorthodoxen Parteien unterstützt.
Wohin wird diese Polarisierung in der israelischen Gesellschaft führen?
Trotz des wachsenden Einflusses der Ultraorthodoxen auf die israelische Gesellschaft gibt es auch sehr starke weltliche Gegenkräfte. Es gibt immer mehr Bürgerinitiativen mit dem Ziel, der zunehmenden Einflussnahme durch Ultraorthodoxe entgegenzuwirken. So hat zum Beispiel eine Organisation den «Shabbus» ins Leben gerufen – einen Bus, der am Schabbat fährt und es so den Bewohnern von Jerusalem ermöglicht, am Schabbat nach Hause zu kommen – weil der öffentliche Verkehr eben ruhen muss.
Doch die Moderne findet ihren Weg auch in die ultraorthodoxen Haushalte: Es gibt immer mehr Mobiltelefone – auch wenn sie durch den Rabbiner kontrolliert werden – und Computer, die für die Arbeit benötigt werden. Ausserdem sind die Ultraorthodoxen eine der ärmsten Bevölkerungsgruppen des Landes und immer mehr Ultraorthodoxe können es sich nicht mehr leisten, sich nur dem Torah-Studium zu widmen. Der Staat versucht der Armut unter den Ultraorthodoxen entgegenzuwirken, indem er jungen Ultraorthodoxen gratis Berufsausbildungen anbietet.
Es sind kleine Schritte, aber immerhin.