Jiří Dvořák war damals 19 Jahre alt und studierte in Prag Medizin. Die Besetzung der Tschechoslowakei durch sowjetische Truppen veränderte sein Leben schlagartig. Nur knapp entging er nach einer grossen Studentendemo der Verhaftung.
Er erinnert sich: «Das war ein Schock, im wunderschönen Frühling sieht man plötzlich überall Panzerwagen, Kalaschnikows und böse Gesichter der Invasionsarmee.» Er beschloss zu fliehen. Seine Heimat sollte er 20 Jahre nicht mehr sehen.
Jaroslav Krupička erlebte die kommunistische Diktatur schon als Bub. 1948 wurde die Eisenwarenhandlung seines Vaters enteignet, die Familie verlor über Nacht alles. Als sogenannter «Kapitalistensohn» wurde er diskriminiert und durfte nicht ins Gymnasium.
Mein Entscheid war dann definitiv.
Nach dem 21. August 1968 war für ihn deshalb klar, dass er fliehen wollte: «Nachdem die Russen kamen, war mein Entscheid definitiv. Ich sagte mir, du darfst da nicht bleiben.»
Mit seiner Flucht ins Unbekannte setzte Jaroslav Krupička eine grosse Hockey-Karriere in der Tschechoslowakei aufs Spiel. In die Schweiz kam er nur mit einer Zahnbürste und Schlittschuhen.
«Prager Frühling»: Weniger Zensur, offene Grenzen
Begonnen hatte die kommunistische Diktatur schon 20 Jahre früher. 1948 übernahmen die Kommunisten in Prag die Macht.
Im Januar 1968 musste die alte stalinistische Führungselite dem neuen KP-Chef Alexander Dubček weichen. Er und seine Reformer propagierten den «Sozialismus mit menschlichem Antlitz». Die Zensur wurde gelockert, die Grenzen gingen auf. Der «Prager Frühling» begann.
Am 21. August 1968 marschierten etwa eine halbe Million Soldaten auf Befehl Moskaus in die Tschechoslowakei ein. Die Bilder gingen um die Welt: Sowjetische Panzer in den Strassen von Prag. Der massive militärische Einsatz machte die Hoffnung des «Prager Frühlings» auf eine Öffnung und Reformen zunichte. Rund 13'000 Tschechoslowaken flohen damals vor der kommunistischen Diktatur in die Schweiz.
Kalter Krieg: Kommunismus gegen Kapitalismus
Es war die Zeit des Kalten Krieges, die Welt war 1968 zweigeteilt in Ost und West, Kommunismus gegen Kapitalismus.
Die Schweizer Bevölkerung war empört über die Unterdrückung der Freiheitsregungen in der CSSR. Sie zeigte sich solidarisch und voll Mitgefühl mit den Flüchtlingen aus dem Ostblock. Man hiess sie willkommen. Die tschechoslowakischen Staatsangehörigen, die dem kommunistischen Zwangssystem entflohen waren, bekamen gratis Einreisevisa für drei Monate.
Wer in der Schweiz um Asyl ersuchen wollte , wurde als Flüchtling anerkannt. Für die Flüchtlinge gab es keine Beschränkungen auf dem Arbeitsmarkt. Die grosse Mehrheit von ihnen hatte eine Matura, eine abgeschlossene Berufslehre oder einen Hochschulabschluss. In der damaligen Hochkonjunktur konnte man die gut qualifizierten Arbeitskräfte aus Ostmitteleuropa gut gebrauchen.
Der Schweiz bis heute dankbar
Wie die meisten der rund 13'000 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei bekamen Jiří Dvořák und Jaroslav Krupička sofort Asyl und wurden wie fast alle damaligen Flüchtlinge nach einigen Jahren eingebürgert.
Viele, die wie die beiden mit nichts in die Schweiz flohen, wurden Ärzte , Zahnärzte, Anwälte, Sportler, Ökonomen oder Spezialisten in technischen Berufen. Sie haben von der Schweiz – und die Schweiz von ihnen profitiert. Die meisten haben sich gut integriert und sind der Schweiz bis heute dankbar.
Jiří Dvořák startete mit 19 Jahren als Handlanger bei einer Baufirma in Zürich, bekam dann ein Stipendium und arbeitete daneben in einer Gärtnerei. Später machte er eine steile Karriere als Neurologe und als langjähriger Chefarzt der Fifa.
Jaroslav Krupička wurde ein berühmter Eishockey-Profi. Zwei Jahre war er in den USA für die Los Angeles Rangers und New York Sharks im Einsatz. Anschliessend wechselte er zum SC Bern und holte dort in den 1970er Jahren mehrmals mit seiner Mannschaft den Meistertitel.
Fremde neue Heimat
Und doch erforderte der Schritt ins Ungewisse bei beiden viel Kraft. Es war nicht leicht, in einem fremden Land Fuss zu fassen und in der Emigration zu leben.
Irena Brežná tat sich lange schwer mit dem Leben in der fremden Schweiz. Sie wurde 1950 bei Bratislava in der damaligen Tschechoslowakei geboren und kam nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 mit ihren Eltern nach Basel.
Irena Brežná litt unter dem Verlust ihrer slowakischen Heimat, Kultur und Sprache. Später wurde sie Journalistin und Schriftstellerin. Für ihren autobiographischen Roman «Die undankbare Fremde» erhielt die temperamentvolle Erzählerin 2012 den Schweizer Literaturpreis.
Eingeflochten im Roman sind aktuelle Szenen einer Dolmetscherin, die den Schweizer Behörden Migrantenschicksale übersetzt. Im Mittelpunkt aber steht eine jungen Frau, die in der Zeit des Kalten Krieges aus der Tschechoslowakei in die Schweiz kam. Die Heranwachsende will der Schweiz nicht bedingungslos dankbar sein. Sie sagt: «Heimat ist da, wo ich motzen kann». Eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Emigration, aber auch poetisch und mit schwarzem Humor. Und: unverändert aktuell.
Grenzen, Nationalitäten, Heimat
Was bedeutet den Flüchtlingen von damals heute «Heimat»? Grenzen oder Nationalbewusstsein spielen für Jiří Dvořák keine wichtige Rolle. Seine Lebenserfahrung lehrt ihn: «Ich glaube, man ist durch das Leben zu einem Weltbürger geworden. Heimat ist dort, wo man mit der Familie glücklich und zufrieden leben kann.»
Heimat ist dort, wo man mit der Familie glücklich leben kann.
Irena Brežná hat immer wieder für Flüchtlinge bei den Behörden gedolmetscht und sich für sie auch im Alltag eingesetzt. Die Schweiz sei heute ein multikulturelles Land. Irena Brežná fühlt sich in dieser Vielfalt sehr wohl, ist sich aber bewusst, dass dadurch auch Konkurrenz entsteht für die Einheimischen.
Flüchtlinge damals – und Flüchtlinge heute. Die Gründe für die Flucht mögen verschieden sein. Doch Migration bleibt ein Balanceakt – für alle Beteiligten. Heute mehr denn je.