Die Armee zögert nicht, klare Worte zu finden, wenn es um ihre Einsatzfähigkeit geht. Sie sagt es zwar nicht mehr so unverblümt wie der Armeechef im März 2022 gegenüber dem «Tages-Anzeiger», als er erklärte: «Mit unseren heutigen Mitteln wäre nach ein paar Wochen Schluss.» Doch auch im neuesten Armeeberich vom August ist die Rede von:
- «Lücken in der Luftverteidigung»
- «mangelnder Standardisierung bei den Kommunikationssystemen»
- «erheblichen Ausrüstungslücken im Fall eines bewaffneten Angriffs»
- «Lücken im Abwehrdispositiv der bodengestützten Luftverteidigung»
- «Ausrüstungslücken bei den mechanisierten Verbänden»
- «eingeschränkter Interoperabilität»
Zu dieser ernüchternden Einschätzung kommt die Armee nach einer - politisch gewollten - 30-jährigen Schrumpfung. Seit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 90er-Jahre sinkt die Anzahl der Kampfpanzer und der Kampfflugzeuge stetig und auch die Mannschaftsstärke wird drastisch verkleinert. Von einem Effektivbestand von etwa 780'000 zu Beginn der 90er-Jahre verbleiben 2022 noch 151'000, wovon rund ein Drittel nur bedingt einsatzbereite Reservetruppen sind.
Verkleinerung der Armee von 1990 bis 2022
Eineinhalb Jahre nach dem russischen Angriff auf die Ukraine besteht heute Einigkeit über die verschlechterte Sicherheitslage. Dennoch herrscht politische Uneinigkeit darüber, was dies für die Armee der Zukunft bedeutet. Wo lauern die grössten Gefahren? Was genau bedeutet «Neutralität» und wie eng soll die Kooperation mit der Nato sein?
Unabhängig von den Antworten auf diese Fragen muss berücksichtigt werden, dass laut dem VBS in den nächsten 10 bis 15 Jahren über 20 Hauptwaffensysteme – angefangen beim Kampfjet F/A-18 bis hin zum Kampfpanzer Leopard und der Panzerhaubitze M109 – das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen.
Diese Waffensysteme stehen vor ihrem Nutzungsende:
Auch auf der personellen Ebene warten Herausforderungen.
Die Dienstzeit wird immer kürzer und die Einführung der «Tatbeweislösung» im Jahr 2009 hat die Zahl der Zivildienstleistenden versechsfacht. Gleichzeitig springen immer mehr Absolventen der Rekrutenschule (RS) vor dem Ende ihrer Dienstzeit wieder ab. Jedes Jahr verlassen rund 11’000 Männer die Armee vor dem Ende ihrer Dienstpflicht, wobei etwa 60 Prozent von ihnen in den Zivildienst wechseln.
Kurz: Die einen gehen erst gar nicht in die RS, die anderen melden sich nach der RS vorzeitig ab.
Es erstaunt deshalb nicht, dass Thomas Süssli die Alimentierung der Armee mit Personal als «die grösste Herausforderung» bezeichnet. Auch seine Chefin, Viola Amherd, teilt diese Ansicht und nimmt ihren Armeechef zugleich in die Pflicht:
Für mich ist das in erster Linie Aufgabe der Armee: dass sie attraktiv ist.
Wie konnte es trotz jährlicher Milliardenausgaben dazu kommen, dass die Schweizer Armee nicht einsatzbereit, ja sogar untauglich erscheint?
Ein Rückblick in die Zeit des Kalten Krieges:
Wir schreiben das Jahr 1958. Es herrscht der «Kalte Krieg» und der «eiserne Vorhang» trennt Europa. Die Unterscheidung zwischen «Gut» und «Böse» ist einfach. Der Feind steht im Osten, die Verbündeten im Westen.
Dennoch ist vollkommen unbestritten, dass die Schweiz unabhängig ist und neutral - und zwar «bewaffnet neutral».
Das zeigt sich etwa in der Frage, ob die Schweiz eigene Atomwaffen besitzen sollte. Diese wird noch im Juli 1958 vom Bundesrat bejaht. Zur bewaffneten Neutralität, so die Überlegung, gehörten auch die maximal abschreckenden Waffen.
Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Armee (…) die wirksamsten Waffen gegeben werden müssen. Dazu gehören die Atomwaffen.
Erst später erkennt man, dass die teuren Atomwaffen auf Kosten der konventionellen Ausrüstung gehen würden. Die Unterzeichnung des Atomsperrvertrags 1969 beendet schliesslich die Atomwaffen-Diskussion.
Über einen Zeitraum von rund 30 Jahren werden die Streitkräfte gemäss des Armeeleitbildes bis 1994 kontinuierlich ausgebaut. Die «Armee 61» ist die grösste Milizarmee der Schweizer Geschichte. Sie umfasst noch Anfang der 90er-Jahre über 700’000 Armeeangehörige. Ihr Leitbild zielt auf eine «flächendeckende Abwehr» mit der Fähigkeit zum Gegenschlag ab. Das hat seinen Preis: Anfang 90er-Jahre macht die militärische Landesverteidigung 17.8 Prozent des Bundeshaushalts und 1.7 Prozent des Bruttoinlandprodukts BIP aus.
Verflechtung von Militär, Gesellschaft und Wirtschaft
Die Milizarmee ist bis tief in die 80er-Jahre eng mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen verwoben. Berufskarrieren sind mancherorts nur bei gleichzeitiger Militärkarriere möglich und kleine wie grosse Unternehmen akzeptieren weitgehend klaglos, dass ihre Fachkräfte jährlich mehrere Wochen Militärdienst leisten und am Arbeitsplatz fehlen.
Die beinahe symbiotische Beziehung von Militär, Gesellschaft und Wirtschaft erhält in den 70er- und 80er-Jahren Risse. Die Jugendunruhen von 1968 machen sich bald auch in der Armee bemerkbar. «Dienstverweigerung» wird zum Thema. Gleichzeitig erhöht die Globalisierung den Druck auf die Unternehmen, kosteneffizient zu produzieren, und lange Offizierskarrieren sind selbst in der Finanzbranche nicht mehr automatisch der Schlüssel zum beruflichen Aufstieg.
Historischer November 1989
Im November 1989 ereignet sich in Berlin Historisches für die Welt - und für die Schweizer Armee: Am 9. November fällt die Mauer. Es ist der Anfang vom Ende des Kalten Krieges und nur zwei Jahre später löst sich die Sowjetunion, der jahrzehntelange Erzfeind, auf.
Auch in der Schweiz ereignet sich Denkwürdiges. Nur gut zwei Wochen nach dem Mauerfall stimmen am 26. November 38 Prozent der Schweizer Bevölkerung der Volksinitiative für eine «Schweiz ohne Armee» zu. Mit einer so hohen Zustimmung hatte niemand gerechnet, nicht einmal die Initianten selber. Sie hatten den «Abstimmungskampf» unter dem Motto «Schlachten wir die heilige Kuh» geführt. Fünf Kantone der Romandie sagen Ja zur Abschaffung der Armee.
Nach dem Ende des Kalten Krieges muss sich die Armee neu orientieren und ihre Existenz rechtfertigen. Wer ist der neue Feind? Was sind die grössten Bedrohungen für die Schweiz? In den folgenden Jahren werden zivile Aufgaben, insbesondere Hilfeleistungen bei Naturkatastrophen und Grossveranstaltungen, immer wichtiger. Dennoch können sie das Vakuum, das durch den Wegfall eines klar definierten Feindes entstand, nicht vollständig füllen. Das gilt auch für den «Kampf gegen den Terror» nach den Anschlägen auf die Zwillingstürme in New York City oder den «Schutz der Grenze gegen Flüchtlinge».
Auf der Suche nach dem neuen Leitbild
Die «Armee 61» mit ihrer flächendeckende Rundumverteidigung weicht dem neuen Leitbild der «Armee 95» und einer als «Dynamische Raumverteidigung» bezeichneten Einsatzdoktrin. Die «Armee 95» ist jedoch nur eine Übergangslösung. Bereits Ende der 1990er-Jahre beginnt die Planung der «Armee XXI», die 2003 von der Bevölkerung deutlich genehmigt und 2004 eingeführt wird. Sie bringt verstärkte internationale Zusammenarbeit mit sich und eine weitere deutliche Reduzierung der Mannschaftsstärke.
Von 2018 bis 2022 schliesslich soll die Umsetzung der «WEA» (Weiterentwicklung der Armee) die Armee noch moderner und flexibler machen. Sie will die Armee wieder stärker regional verankern und Ausrüstung und Ausbildung verbessern.
Diese Entwicklung spiegelt die neue Sicherheitslage in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges wider. Mit dem Wegfall der Bedrohung wird die Kriegslogistik weitgehend nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen organisiert und für den Ausbildungsbetrieb optimiert. Die Reduzierung der Truppen erfolgt dabei nicht durch eine Verringerung der Aushebungszahlen, sondern vielmehr durch eine Kürzung der Dienstpflichtdauer.
Die Ausgaben für die militärische Landesverteidigung sinken innert rund 20 Jahren 1.7 Prozent auf 0.8 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Auch der Anteil am gesamten Bundeshaushalt reduziert sich um über die Hälfte.
Dem Sparauftrag zum Trotz steckt Bundesrat Ueli Maurer bei seinem Amtsantritt im Dezember 2008 ein hohes Ziel: Die Schweizer Armee solle die beste Armee der Welt werden:
Was der Verteidigungsminister als Vision formulierte, kommt nie zur Umsetzung. Unter Ueli Maurer baut das VBS vor allem ab. Gespart wird nicht nur bei Truppen und Waffensystemen, auch bei der Infrastruktur wird der Rotstift angesetzt. Festungen werden geschlossen, Atomschutzunterstände rückgebaut, Gebäude verkauft.
Auch auf dem politischen Parkett erfüllt Maurers Ansage ihren Zweck höchstens teilweise. So scheitert er etwa mit seinem Prestigeprojekt, als das Stimmvolk im Mai 2014 den Kauf von 22 schwedischen Gripen-Jets ablehnt.
Die Sicherheitslage in Europa habe sich massiv verschlechtert, ist der Schweizer Armeechef überzeugt. Und auch die Verteidigungsministerin will kein Szenario mehr ausschliessen. Von «Zäsur» und «Zeitenwende» ist die Rede. Einen konkreten Feind können aber weder Viola Amherd noch Thomas Süssli auf Nachfrage benennen.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wäre naheliegend, dass man im VBS von Russland als möglicher Bedrohung ausgeht. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) stellt in seiner jüngsten Lagebeurteilung allerdings fest:
Ein bewaffneter Angriff Russlands auf die Schweiz bleibt äusserst unwahrscheinlich.
Fazit: Es sollen umfassende Massnahmen eingeleitet werden, auch wenn die Gefahr sehr diffus bleibt. Die Armee hat in diesem Zusammenhang eine einfache Formel entwickelt: Potenziale x Absicht. «Die Potenziale nehmen in ganz Europa zu», sagt Thomas Süssli, «und die Absichten können sich schnell ändern.»
Darum wollen die Verteidigungsministerin und der Armeechef in den kommenden Jahren eine Annäherung an die Nato vorantreiben. Ein Alleingang sei keine erfolgversprechende Option. Aber wie weit kann ein neutrales Land wie die Schweiz gehen mit einer solchen Annäherung? Viola Amherd findet: Die rote Linie sei ein Beitritt, alles andere kein Problem. Hitzige Debatten im Parlament sind hier vorprogrammiert.
«Interoperabilität»: Voraussetzung für Zusammenarbeit
Um mit der Nato zusammenarbeiten zu können, braucht die Schweiz Interoperabilität: Die Armeen müssen sozusagen miteinander kompatibel sein. Das bezieht sich auf Organisation, Systeme und Techniken. «Die Entwicklung verläuft im Moment exponentiell», stellt Süssli fest. Alle Armeen seien daran, die Digitalisierung voranzutreiben. «Diesen Schritt werden wir auch machen.»
Das setzt gewaltige Investitionen voraus. Alle Nato-Armeen streben an, jährlich 2 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) für die Verteidigung auszugeben, bei den USA sind es schon lange 4 Prozent. Die Schweiz hat sich zum Ziel gesetzt, bis ins Jahr 2035 1 Prozent zu erreichen.
Um die Schweizer Armee fit zu machen für die Zukunft, hat Süssli im vergangenen August einen langen Einkaufszettel «kurzfristiger Massnahmen» präsentiert. Er will überall investieren: in die Bodentruppen, in die Luftabwehr und in den Cyberbereich.
Was US-General Petraeus der Schweiz rät
Der ehemalige US-4-Sterne-General David Petraeus schreibt gerade ein Buch über die Kriege der Zukunft. Er rät der Schweiz, sich nun vor allem um die Bereitschaft zu kümmern. Das Equipment, das man habe, müsse jederzeit einsatzbereit sein – und die Menschen, die es bedienten, bestens ausgebildet. Zweitens würde er die Munitionslager unbedingt auffüllen. Und Drittens: die Truppen beweglicher machen und sich auf neue Technologien einstellen - von Drohnen bis künstliche Intelligenz (KI).
Neuer Verteidigungsbegriff soll auch Luftschläge im Ausland erlauben
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Interoperabilität ist für die Schweiz die Beschaffung des F-35 aus den USA. Im Ernstfall soll dieses Kampfflugzeug auch Ziele im Ausland ausschalten können – allein oder im Verbund mit der Nato. Ein neues Szenario. Es nennt sich «Air Interdiction» und war bis vor kurzem noch geheim. Heute werden diese Strategien offen ausgesprochen.
Die Verteidigungsministerin drückt es so aus:
Auch das wird im Parlament im nächsten Frühjahr sicher noch zu reden geben.
Das Gefechtsfeld wird «gläsern»
Auf die Lehren aus dem Ukraine-Krieg angesprochen, fallen bei den meisten Experten die gleichen Stichworte: Das Gefechtsfeld werde gläsern, darum müssten Armeen künftig in kleineren und schneller verschiebbaren Einheiten operieren und sich besser tarnen. Sie müssten sich auf neue Bedrohungen wie Kamikaze-Drohnen einstellen, zunehmend auch KI-gesteuert, aber gleichzeitig nicht vergessen, dass schwere Mittel wie Panzer auf absehbare Zeit entscheidende Faktoren auf dem Gefechtsfeld blieben.
Satellitenaufklärung und Drohnen machen das Gefechtsfeld gläsern, ist auch Armeechef Süssli überzeugt: «Darum müssen alle Truppen beweglicher werden, auch kleiner sein, und müssen sich besser tarnen können.» Ansonsten werde es ein Nebeneinander sein von neuen und alten Technologien.
Gleichzeitig sind sich alle Experten einig: Am Ende bleibt es vor allem auch der Mensch, der kämpft – und stirbt. Die Idee eines antiseptischen Krieges, der aus grosser Distanz geführt werden kann und praktisch keine Opfer in den eigenen Reihen fordert, treibt die Armeen seit jeher an. Realität geworden ist er bisher nicht.
Wenn man natürlich wartet, bis die Rakete einschlägt im Haus, dann muss man nicht mehr verteidigen. Dann ist es zu spät. Da muss man schon schauen, dass man die bereits aufhalten kann, bevor sie ihr Ziel erreicht.