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SRF DOK Schwierige Reise in ein kriegsgeplagtes Land

Ich gebe zu: Diese Reportage hatte ich mir einfacher vorgestellt. Wir begleiten eine Schweiz-Ukrainerin in ihr Heimatland, wo sie Spenden verteilen will. Der Roadtrip aber wird zur heiklen Gratwanderung. Und das hängt mit der widersprüchlichen Situation in der Ukraine zusammen.

Das erste Mal begegne ich meiner Protagonistin in der Fernsehkantine. Fast jeder Mann, der an Irina von Burg vorbeigeht, dreht sich nach ihr um. Ich schmunzle: Die Kollegen würden es wohl nicht für möglich halten, dass die attraktive 38-jährige Hausfrau in einem Schützengraben der Ostukraine gestanden hat.

Und an die Front will die gebürtige Ukrainerin jetzt wieder. Ist es Mut oder Leichtsinn, immerhin hat Irina drei Kinder? Sie wolle die Männer moralisch unterstützen, die ihr Leben für ihre Heimat aufs Spiel setzen. Bewundernswert jedenfalls ist Irinas grosses Engagement beim Spendensammeln. Aber sie macht keinen Unterschied zwischen Hilfe für Zivilisten und Soldaten. «Schliesslich greift Putin nicht mit einem Glacé an». Ab unserer Ankunft im Westen der Ukraine werden wir von Soldaten eines Freiwilligen-Bataillons chauffiert. Irina hat sie via Facebook kennen gelernt.

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Karin Bauer arbeitet seit 1994 bei SRF. In ihren Reportagen und Dokumentarfilmen geht sie politischen und gesellschafltichen Fragen auf den Grund.

Zuerst fahren wir in die Hauptstadt Kiew. Ich möchte mit einer Familie über die Lebensbedingungen sprechen. Die Ukraine leidet unter Gewalt und Korruption. Die Landeswährung hat sich durch den Krieg und den Abfluss von Investitionen aus dem Ausland um mehr als die Hälfte entwertet. Doch davon will Irina nichts hören: «Wie die Leute leben, geht uns nichts an», sagt sie.

Es ist schwierig, sie auf dem Majdan-Platz in ein Gespräch mit einer Arbeiterin zu verwickeln. Die eingebürgerte Schweizerin sagt, für sie stehe die Aggression aus Russland im Zentrum. Darum fände sie es verfehlt, über die anderen Probleme ihrer Heimat zu sprechen.

Irinas militärische Begleiter des Bataillons Ajdar sind mir nicht ganz geheuer.

Irina von Burgs Misstrauen wächst von Tag zu Tag. Ich spüre, dass ich auf dünnem Eis gehe. Aber Irinas militärische Begleiter des Bataillons Ajdar sind mir nicht ganz geheuer. Die Freiwilligen-Bataillone standen lange in der Kritik, weil sie sich nicht dem ukrainischen Militärkommando unterordneten.

Auch laufen Strafverfahren wegen angeblicher Kriegsverbrechen. Gemäss einem Bericht von Amnesty International sollen Mitglieder des Ajdar-Bataillons Zivilisten, die sie verdächtigten, mit den pro-russischen Separatisten zu kooperieren, verhaftet, geschlagen, erpresst und ausgeraubt haben. Als ich die Männer in ihrem Hauptquartier darauf anspreche, wehren alle ab: Das sei russische Propaganda.

Eine emotionale Achterbahnfahrt

Die Propaganda findet sich auf beiden Seiten. Sie ist das grosse Problem in diesem verworrenen Konflikt. Irina beklagt sich über die Meldungen der russischen Sender. Zum Beispiel, dass ukrainische Kämpfer so sehr Hunger litten, dass sie russische Kinder verspeisen würden. Ich kann nachvollziehen, dass die Dauerpropaganda sie reizbar und empfindlich macht.

Unsere Reise wird zur emotionalen Achterbahnfahrt. Die Ambivalenz, ja, die Schizophrenie dieses Kriegs ist überall zu spüren: Militärarzt Vadim Sviridenko hat im Kampf gegen pro-russische Separatisten Arme und Beine verloren. Aber wie die meisten Ukrainer spricht er russisch mit uns und sagt, die Russen seien seine Brüder. Wen wundert's, schliesslich verbindet die beiden Länder eine gemeinsame Geschichte seit dem Mittelalter. Schuld am aktuellen Konflikt habe allein die Politik.

Ruhe vor dem erneuten Sturm

Ich gestehe: Als wir nach sechs Tagen durch die Passkontrolle in Kiew gehen, bin ich erleichtert. Gefilmt hatten wir im Sommer. Natürlich bin ich froh, dass der Waffenstillstand seit Anfang September mehrheitlich hält. Aber es scheint die Ruhe vor dem Sturm zu sein. Einerseits gab es Ende August in Kiew blutige Proteste, als das ukrainische Parlament über Sonderrechte für die Gebiete der pro-russischen Separatisten sprach. Andrerseits wollen die Separatisten nächstens Wahlen nach ihren eigenen Regeln durchführen, was das Friedensabkommen von Minsk bedroht.

Irina jedenfalls sammelt unter Hochdruck weiter.

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