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Sehnsucht Kind – Wenn der Kinderwunsch unerfüllt bleibt
Aus rec. vom 17.06.2024.
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Sehnsucht Kind Leben ohne Wunschkind: Paare sprechen über ein Tabu

Etwa jedes zehnte Paar in der Schweiz ist ungewollt kinderlos. Auf das Verliebtsein und den Kinderwunsch folgt die Ernüchterung: Sex auf Kommando, Selbstzweifel beim Mann und psychische Belastungen der Frau gehören zu den Begleiterscheinungen. Aber auch die Trauer prägt die Paardynamik über Jahre.

«Du musst reden, das Ganze nagt an deiner Psyche», sagt Stefanie zu ihrem Mann Vanjo. Es geht um den unerfüllten Kinderwunsch des Paares aus dem Baselbiet. Die beiden lernen sich vor sieben Jahren während der Ausbildung kennen. Die Liebe war sofort da, der Kinderwunsch auch. Es kam aber anders als geplant.

Männlichkeit auf dem Prüfstand

«Der Arzt sagte zu mir: ‹Heute Abend wäre es passend.› Es war dann einfach Sex auf Kommando, der Zauber ging verloren.» Geschlechtsverkehr nach Plan markiert für das Paar den Anfang einer schwierigen Lebensphase: Stefanie wird auf natürlichem Weg nicht schwanger.

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Heute fällt es Vanjo leichter, über intime Details zu sprechen.
Aus rec. vom 01.04.2024.
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Es folgt eine beinharte Diagnose für Vanjo. Der Arzt stellt ein sehr schlechtes Spermiogramm fest. «Ich sass dort und dachte ‹Scheisse›. Ich habe meine Männlichkeit infrage gestellt.»

Ursachen für einen unerfüllten Kinderwunsch

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  • Die Ursachen für einen unerfüllten Kinderwunsch sind gleichermassen auf den Mann wie auf die Frau zurückzuführen.
  • Bei der Frau gehören hormonelle Störungen, Verschluss oder Funktionsverlust der Eileiter oder auch Erkrankungen wie Endometriose zu den möglichen Ursachen.
  • Beim Mann gehören eine verminderte Spermienqualität, eine Störung der Spermienproduktion, Erkrankungen oder angeborene Fehlbildungen zu den möglichen Ursachen.
  • Körperliche sowie psychische Faktoren können die Fruchtbarkeit negativ beeinflussen, aber auch der Lebensstil hat einen Einfluss auf die Fruchtbarkeit von Mann und Frau. So vermindert zum Beispiel Rauchen nachweislich die Fruchtbarkeit von Männern und Frauen.
  • Bei einigen Paaren findet man trotz aufwändigen Abklärungen keine Ursachen.

Bei Vanjo beginnen die Selbstzweifel: «Warum passiert das bei mir? Was habe ich falsch gemacht? Das Gedankenkarussell drehte immer weiter, ich konnte es nicht mehr abstellen.» Für Stefanie bleibt der Kinderwunsch trotz Vanjos Diagnose stark. Auch sie lässt sich untersuchen, erhält aber keine eindeutige Diagnose.

Wechselbad der Gefühle

Das Paar entschliesst sich für die Kinderwunschklinik. Die Behandlung dauert mehrere Jahre. «Der Sinn des Lebens ist eine Familie», sagt die 39-Jährige unter Tränen. Mittlerweile ist Stefanie Stammkundin in der Kinderwunschklinik in Basel und hat bereits den 4. Versuch einer ICSI-Behandlung hinter sich.

Was bedeutet «ICSI»?

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Es handelt sich hierbei um eine Form der künstlichen Befruchtung, bei der ausserhalb des Mutterleibs eine Eizelle mit einem Spermium befruchtet wird. Anschliessend wird die befruchtete Eizelle in die Gebärmutterhöhle transferiert.

Auf dem Weg zum Schwangerschaftstest in der Klinik sagt Stefanie: «Wir müssen positiv bleiben, aber die vielen Enttäuschungen machen es schwer.»

Es gibt viele Abende, da weine ich ununterbrochen.
Autor: Stefanie Di Biase Fachfrau Betreuung Kinder

Auch der 5. Versuch scheitert. Die Reproduktionsmedizin kann den Traum von eigenen Kindern bei Stefanie und Vanjo bis heute nicht erfüllen. Stefanie sagt: «Es gibt viele Abende, da weine ich ununterbrochen. Das Leben vor der Kinderwunschklinik war unbeschwerter.»

Doch die beiden geben nicht auf, die Hoffnung trägt das Paar auch nach über fünf Jahren Kinderwunschzeit.

Gesprächsgruppen als Zufluchtsort für trauernde Frauen

Julias Arm ist frisch tätowiert. Acht miteinander verbundene Punkte markieren acht Fehlgeburten. «Für mich war die Tätowierung ein Trauerritual, jetzt sind sie dabei.» Über ihre ungeborenen Kinder spricht die 40-Jährige aus dem Kanton Bern in einer Gesprächsgruppe für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch.

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Julia über die Bedeutung ihrer Tätowierung
Aus rec. vom 17.06.2024.
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Solche Schicksale machen einsam, erklärt Gruppenleiterin Jeannine Donzé. Die Thematik sei schambehaftet und in der Gesellschaft tabuisiert. Die Gesprächsgruppe bietet den Frauen einen geschützten Raum für die Trauer.

Interview: «Unerfüllter Kinderwunsch vergleichbar mit Todesfall»

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SRF rec.: Man spricht beim unerfüllten Kinderwunsch von einem Trauerprozess, weshalb? 

Jeannine Donzé, psychologische Beraterin: Bei einem unerfüllten Kinderwunsch kann viel Ungelebtes betrauert werden. Zum Beispiel das Kind als gemeinsames Drittes, das fehlende körperliche Erleben einer Schwangerschaft oder innere Bilder von sich als Mutter oder Vater, die seit Kindertagen da sind und nun nicht eintreffen.

Auf psychologischer Ebene ist ein unerfüllter Kinderwunsch oder ein frühgeburtlicher Kindsverlust vergleichbar mit einem Todesfall. Die Betroffenen durchleben ähnliche Trauerphasen. Es beginnt meist mit der Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens, einer Schockstarre. Dann kommen die aufbrechenden Emotionen.

Das können unterschiedliche Gefühle sein wie Wut, Neid, Insuffizienz und auch Leere. Auch Aktivismus und Müdigkeit können Ausdruck sein von Trauer. Danach kommt die Phase der Suche, die dann schliesslich in einen neuen Selbst- und Weltbezug münden wird.

Welche Rolle spielt das Frausein bei der Trauer?

Mutterschaft ist auch heute noch stark mit weiblicher Identität verbunden. Frauen werden öfters auf Kinder angesprochen als Männer. Da Frauen seit dem Alter von 12, 13 Jahren im Zyklus stehen, ist die Trauer oft ganz nahe mit dem Körper verbunden.

Die Monatsblutung oder später die Menopause kann emotional sehr schmerzhaft sein. Oder es kann eine Wut auf die eigenen Organe geben, die nicht funktionieren. Die Behandlungen in der Kinderwunschklinik sind für Frauen oft mit Nebenwirkungen verbunden.

Der Blick auf den Körper wird defizitär und mechanisch. Viele Frauen erleben sich Müttern gegenüber als minderwertig.

Was bedeutet der Trauerprozess für die Paardynamik?

Während eigene Kinder oft ein gemeinsames Projekt sind und ein Paar zusammenschweissen, kann die Kinderlosigkeit für ein Paar sehr trennend erlebt werden. Vielleicht weiss man, wer von beiden ein medizinisches Problem hat, das den Kinderwunsch verhindert. Das kann sehr belasten und zu Schuldgefühlen führen.

Auch kann es sein, dass beide Partner:innen unterschiedlich trauern. Vielleicht hat jemand ein starkes Redebedürfnis, und der oder die Andere stürzt sich als Verarbeitung in die Arbeit oder sportliche Aktivitäten.

Da die Stelle des Wunschkindes leer bleibt, fehlt dem Paar anfangs oft ein Lebensplan und ein Stück Zukunft. Es geht dann darum, sich auch als Paar neu zu orientieren und sich geistige Kinder im Sinne von Projekten usw. zu suchen. Viele Paare machen auch äusserlich einen Schnitt mit einem Umzug oder einer Reise.

Jeannine Donzé ist psychologische Beraterin, Gründerin der Gesprächsgruppe «Frau sein ohne Kind» und Autorin des Buches «Was wir in die Welt bringen – Frauen zwischen ‹kinderlos› und ‹kinderfrei›».

«Ich erlebe in der Trauer Phasen des Nebels, das ist schwer für mich. Ich weiss dann nicht, wann das Dumpfe wieder aufhört», sagt eine Teilnehmerin. «Der Austausch mit den Frauen hilft. Die Trauer kommt zwar immer wieder, aber sie geht auch wieder», ergänzt eine andere.

Wenn der Umgang mit dem Schicksal in unterschiedliche Richtungen zieht

Für Julia ist die Trauer gerade sehr aktuell, kürzlich wurde sie 40. «Vierzig ist ein Schild» – Julia meint die biologische Uhr.

Wir entschieden uns als Paar, das wir gerne Kinder haben möchten. Jetzt entscheide ich allein, dass ich kein Kind mehr will.
Autor: Chris Wälchli Mitarbeiter Kommunikation

Ein Funke Hoffnung, doch noch Mutter zu werden, ist trotz Alter und acht Fehlgeburten geblieben. Nicht so bei Chris, dem Partner von Julia: «Wir entschieden uns als Paar, dass wir gerne Kinder haben möchten. Jetzt entscheide ich allein, dass ich kein Kind mehr will.»

Es gab Zeiten, da glaubte ich, ich werde nie mehr glücklich.
Autor: Chris Wälchli Ist aufgrund der Trauer in eine tiefe Depression gefallen

Alle sechs Monate durchlebt Chris mit Julia eine Fehlgeburt. Die Belastung in den letzten Jahren sei heftig gewesen. Chris fällt in eine Depression, kann zeitweise nicht mehr arbeiten. «Es gab Zeiten, da glaubte ich, ich werde nie mehr glücklich.»

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Chris über seine Trauer und Erschöpfung
Aus rec. vom 17.06.2024.
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Heute geht es Chris besser, unter anderem dank einer Therapie und der Musik. Er versuche wieder zu leben, auch wenn die Antwort, warum das Paar kinderlos ist, ausbleibt.

Chris Wälchli mit Tätowierung
Legende: Chris Wälchli mit Tätowierung SRF

Chris sticht sich das Schicksal, wie seine Partnerin Julia, unter die Haut – ein Zitat von Bob Dylan: The answer is blowing in the wind.

Angst vor dem Alter ohne Kinder

«Ich wäre eine positive, fürsorgliche, liebevolle Mutter gewesen», sagt Regula, während sie Schürzen für ihren eigenen Restaurantbetrieb näht. Regula ist 45 Jahre alt und hat den Kinderwunsch losgelassen. «Das Thema wird mich trotzdem ein Leben lang begleiten und mich auch immer wieder traurig machen.»

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Regula macht sich Gedanken über das Älterwerden ohne Kinder.
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Regula erzählt vom Älterwerden und von der Angst davor, einmal allein zu sein. Deshalb wolle sie sich frühzeitig mit möglichen Lebensformen im Alter beschäftigen. Sie sei auch zuversichtlich, dass es andere Menschen geben werde, die sich um sie kümmern werden.

Ungelebtes ruft nach Ablenkung

Zusammen mit ihrem Mann Michel leitet Regula verschiedene Gastronomiebetriebe in Bern. Die beiden führen ein intensives Leben. Sie erzählen von Ungelebtem in ihrem Leben. Beide haben sich aus vollem Herzen ein Haus mit Kindern gewünscht.

Man kann eine Beziehung oberflächlich leben, das haben wir nicht gemacht.
Autor: Michel Gygax Gastronomie Unternehmer

Der unerfüllte Kinderwunsch hat während zehn Jahren die Beziehung gefordert. Michel fasst zusammen: «Man kann eine Beziehung oberflächlich leben, das haben wir nicht gemacht. Es gab viele emotionale Schwankungen.»

Mittlerweile gehen die beiden seit 18 Jahren gemeinsam durchs Leben. Sie hätten das «volle Programm» durchgezogen. Auch die künstliche Befruchtung hat das Paar ausprobiert.

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«Wir haben das gut gehandhabt.»
Aus rec. vom 17.06.2024.
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«Der intensive Wunsch nach Kindern hat schon nach Ablenkung gerufen.» Michel hat gerade sein 10. Restaurant eröffnet. Das Aktive im Beruf habe geholfen: Michel hat einen Umgang mit dem unerfüllten Kinderwunsch gefunden: Es sei eine Mischung zwischen «sich mit dem Thema beschäftigen, etwas anderem Platz lassen und vielleicht auch ein bisschen Verdrängung».

Ungewollte Kinderlosigkeit und Trauer als Chance verstehen

«Es ist für mich existenziell, er ist meine Familie, das verbindet noch mehr». So beschreibt Julia ihre Beziehung zu Chris. Das Paar investiert durch das Schicksal noch bewusster in die Beziehung.

Auch Regula und Michel erzählen von Freundschaften mit anderen Paaren, die durch die Kinderlosigkeit entstanden sind, und von Freiheiten, die mit Kindern so nicht möglich wären.

Vanjo und Stefanie haben durch die Kinderwunschzeit gelernt, über alles zu reden. Das Schwere bringt zuletzt auch viel Verbindendes.

Alle Sendungen auf Play SRF

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Legende: SRF

Beide Folgen sowie Q&As zum unerfüllten Kinderwunsch finden Sie in der Sendung «rec.» auf Play SRF.

SRF 4, 17.06.2024, 06:15 Uhr

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