Als Valeria am Valentinstag 2018 in Luzern zur Welt kommt, scheint alles in Ordnung zu sein. Kaum zu Hause, kommt es zu einer dramatischen Entwicklung: Sie hört plötzlich auf zu atmen und ihre Eltern müssen sie notfallmässig ins Spital bringen. «Was das Ganze mit sich bringt, konnten wir in dem Moment noch nicht abschätzen», erinnert sich Alexandra Schenkel, Valerias Mutter. Es dauert mehrere Wochen, bis die Ärzte die Ursache finden.
Im Moment müssen wir froh sein, dass sie selber atmet und selber isst.
Eine Behandlung gibt es nicht
Die erschütternde Diagnose: Valeria leidet unter einer Neumutation auf dem KCNT1-Gen, die ihre körperliche und geistige Entwicklung stark beeinträchtigt. Die Reizübertragung in ihrem Gehirn funktioniert nicht richtig. Weniger als 100 Kinder weltweit leiden unter einer Mutation auf dem KCNT1-Gen, sogar nur 3 oder 4 unter der genau Gleichen wie Valeria. Und es gibt keine Behandlung. «Im Moment müssen wir froh sein, dass sie selber atmet und selber isst. Andere Kinder haben Magensonden und werden beatmet, sind die ganze Zeit im Spital.» erklärt Vater Mario Schenkel. Doch auch Valeria leidet. Sie kann sich nicht bewegen und täglich quälen sie unzählige epileptische Krampfanfälle.
Die Zeit rennt davon
Mehr als eine halbe Million Menschen in der Schweiz leiden unter einer seltenen Krankheit. Das Problem: Weil es mehrere tausend seltene Krankheiten gibt und ständig neue entdeckt werden, weiss man über die einzelnen Erkrankungen kaum etwas. Es sind so wenig Patienten, dass es sich finanziell für die Pharma-Firmen nicht lohnt, Medikamente oder Behandlungen zu entwickeln.
Meist handelt es sich bei seltenen Krankheiten um Genmutationen. Zum Teil werden sie vererbt, meist sind es aber spontane Mutationen. Schon nur ein einziger «Schreibfehler» in der DNA kann das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen. Rund ¾ der seltenen Krankheiten betreffen Kinder, von denen viele früh sterben.
So ist es auch bei Valeria. Die Lebenserwartung von Kindern mit ihrem Gendefekt beträgt 3 bis 4 Jahre. Da es keine Behandlung gibt und Medikamente im besten Fall die Symptome lindern, rennt den Eltern die Zeit davon. Deshalb setzen sie alle Hebel in Bewegung, um die Lebensqualität ihrer Tochter zu verbessern.
Nach wochenlangen Recherchen im Internet und Gesprächen mit Ärzten und Wissenschaftlern rund um die Welt finden sie in den USA an der Harvard Medical School und der Yale School of Medicine ein Team von Neurogenetikern und Wissenschaftlern, das bereits erste Erfahrungen mit der Behandlung ähnlicher Gendefekte hat. Sie wollen versuchen, ein sogenanntes «Antisense Oligonukleotid» zu entwickeln, das Valerias Gendefekt ausschalten soll.
Kostspielige Hoffnungsträger
Gentechnik könnte in Zukunft eine Chance für Menschen mit seltenen Krankheiten werden. Mit neuen Methoden liessen sich personalisierte Medikamente herstellen, so die Hoffnung sowohl der Betroffenen als auch der Wissenschaftler.
Mario und Alexandra Schenkel müssen die Entwicklung des Medikaments für ihre Tochter selber finanzieren. In der Schweiz beteiligen sich weder Krankenkassen noch die Invalidenversicherung an der Entwicklung von Medikamenten. Der Preis für die Entwicklung von «Valeriasen»: 2 Millionen Franken.
Die Hälfte des Betrages können Mario und Alexandra Schenkel selber auftreiben: eigene Ersparnisse, Geld von der Familie und Freunden. Mit einer schweizweiten Sammelaktion versuchen sie die zweite Million zusammenzubringen. Die Eltern binden auch die Medien mit ein, die auf allen Kanälen über ihre kranke Tochter berichten. Nach nur drei Tagen überschreitet das Crowdfunding die Millionengrenze. Es ist die bislang europaweit erfolgreichste Sammelaktion im Bereich Medizin.
Das Schicksal der kleinen Valeria
Im Sommer 2019 fliegt Familie Schenkel nach Boston, wo das Medikament für Valeria entwickelt wird. Doch es dauert – auch wegen Corona – alles viel länger als erwartet. Nach einem Jahr in Boston bekommt «Valeriasen» endlich die Zulassung der amerikanischen Behörde FDA und Valeria ihre erste Dosis ins Rückenmark gespritzt. Die Dosis wird alle zwei Wochen etwas erhöht. Und wirklich, schon nach kurzer Zeit geht es Valeria sichtlich besser. Sie hat deutlich weniger Krampfanfälle und kann sogar den lokalen Kindergarten besuchen!
Man muss davon ausgehen, dass es ein Nebeneffekt des Medikaments war. Man hat ihr wahrscheinlich zu viel gegeben.
Doch nach einem halben Jahr Behandlung verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand wieder. Im September 2021, ein Jahr nach Behandlungsbeginn, stirbt Valeria. Es hat sich über längere Zeit Hirnflüssigkeit in ihrem Kopf angesammelt, was aber viel zu spät entdeckt wurde. «Man muss davon ausgehen, dass es ein Nebeneffekt des Medikaments war. Man hat ihr wahrscheinlich zu viel gegeben.», erklärt Mario Schenkel. Trotz des traurigen Endes wollen Alexandra und Mario Schenkel den Kampf gegen die seltene Krankheit ihrer Tochter nicht aufgeben. Denn Valeria hat in ihrem kurzen Leben sehr viel bewegt: bei all den Menschen, die sie auf ihrem Weg begleiteten und auch in der Medizin.