Als ich Philipp Gurt das erste Mal in Chur traf, und er mir von seiner schmerzhaften Kindheit erzählte, war ich sehr berührt. Philipp Gurt wuchs zur selben Zeit auf wie ich, doch seine Lebensrealität war so erschreckend anders als meine. Für mich gehörten körperliche Strafen und Gewalt vergangenen Zeiten an. Dass Kinder in den 70er und 80er Jahren in Schweizer Heimen alltäglich Misshandlungen und Missbräuche erlebten und von keiner Seite Schutz erfuhren, war für mich eine erschütternde Erkenntnis. Dem wollte ich auf den Grund gehen, und Philipp Gurt war bereit, mir und meinem Team sein Herz zu öffnen.
Spurensuche
Ein Jahr lang begleiteten wir Philipp Gurt auf der oft schmerzhaften Spurensuche in seine Vergangenheit:
- Ins Bergdorf, wo er als Vierjähriger vom geliebten Vater Abschied nehmen musste und seither nie mehr zurückgekehrt war.
- Beim schwierigen Gang in die verschiedenen Heime, wo er als Kind schwerste Misshandlungen erlebt hatte.
- Zum bewegenden Wiedersehen mit anderen ehemaligen Heimkindern.
Philipp Gurt ist heute ein erfolgreicher Autor und Vater von fünf Kindern. Mit seiner Autobiographie «Schattenkind», in der er auch über den erlebten sexuellen Missbrauch als Kind erzählt, möchte er allen Betroffenen eine Stimme geben.
Soziales Unrechtssystem
Philipp Gurts Familie wurde von den Behörden ihrer Herkunft wegen als «Vaganten» diskreditiert. Dies bedeutete damals, dass die Betroffenen als «unwert» und «schwachsinnig» angesehen wurden. Denn bis in die 80er Jahre wirkte in der Schweiz das Gedankengut der Eugenik nach, auf dem auch die Rassenlehre der Nazis basierte. Damit wurden jahrzehntelang fürsorgerische Zwangsmassnahmen sowie Zwangssterilisationen gerechtfertigt. Auch bei Philipp Gurts Vater wollte man eine solche ausführen.
Philipp Gurt und seine acht Geschwister kamen in verschiedene Heime, als die Mutter von einem Tag auf den anderen ihren Mann verliess. Die Familie wurde bewusst auseinandergerissen und die Kinder im Alter von 3 bis 14 Jahren waren so der Willkür von Heimerzieherinnen und Erziehern schutzlos ausgeliefert. Dies machte die erzieherische Kälte, die Brutalität und den weitverbreiteten sexuellen Missbrauch der wehrlosen Kinder erst in diesem Umfang möglich.
Befragungen des Psychologischen Instituts der Universität Zürich unter Verding- und Heimkindern in der Schweiz haben ergeben, dass fast 70 Prozent von ihnen körperliche Gewalt erlitten hatten und mehr als die Hälfte sexuell missbraucht worden waren.
Kindsmissbrauch
Sexueller Kindsmissbrauch, wie ihn auch Philipp Gurt jahrelang erlebt hat, ist auch heute noch ein sehr grosses Tabu. Doch Untersuchungen zeigen, dass 15 Prozent der Minderjährigen in der Schweiz sexuelle Gewalt erfahren. Die betroffenen Mädchen und Knaben schweigen meist jahrelang aus Scham und Schuldgefühlen. Denn oft sind es nahe Familienangehörige, welche das Vertrauen und die Schutzlosigkeit der Kinder missbrauchen und so ihr Urvertrauen zerstören.
Philipp Gurt erfuhr vor allem sexuelle Übergriffe durch Erzieherinnen, ein doppeltes Tabu. Fachleute gehen davon aus, dass 10 Prozent der Kindsmissbrauchsfälle von Frauen begangen werden. Am häufigsten von Müttern an ihren kleinen Töchtern. Doch bei Knaben, die sexuelle Gewalt von Frauen erfahren, ist die Hemmschwelle, darüber zu sprechen aus Scham noch grösser als bei Mädchen. Auch Philipp Gurt wagte es erst als erwachsener Mann in einer Psychotherapie.
Schreiben zum Überleben
Für Philipp Gurt war die Sprache immer schon ein wichtiges Instrument, um zu überleben und seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Mit 15 Jahren, in einer Zeit grosser Ausweglosigkeit, entstand sein erstes Gedicht. Es folgten Kurzgeschichten, und 2005 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Sechs weitere Romane und Krimis erschienen seither und alle enthalten autobiografische Elemente. Philipp Gurt schrieb als Ghostwriter auch zwei Biografien, unter anderem für die Biathletin und Silbermedaillen-Gewinnerin bei den Olympischen Winterspielen 2014 Selina Gasparin. Doch erst mit seiner Autobiographie «Schattenkind», die parallel zu den Dreharbeiten entstand, erzählt er seine aufwühlende Geschichte.
Ohne Wut und Hass
Philipp Gurt hat auf seiner Spurensuche viel Zuspruch und grosse Offenheit von Seiten der Behörden, ehemaliger Heime und Institutionen erfahren. Alle angefragten Heime luden ihn zur Besichtigung seiner Akten und der heutigen Institution ein, und wir durften ihn mit der Kamera an diese emotionsgeladenen Orte begleiten. Philipp Gurt war erfreut zu sehen, wie sehr sich die Pädagogik entwickelt und sich die heutige Realität in den Heimen positiv gewandelt hat. Kindern und Jugendlichen wird heute auf Augenhöhe begegnet, und ihre Eltern werden in Entscheidungsprozesse einbezogen. So arbeitet auch Philipp Gurts Frau Judith im ehemaligen «Waisenhaus Chur», das heute als Therapiehaus Fürstenwald Kinder und Jugendlichen mit psychischen Problemen in Krisensituationen Schutz und Halt bietet.
Solidaritätsbeitrag
Philipp Gurt verspürt weder Wut noch Hass. Er hat auch den Täterinnen und Tätern von damals verziehen. Zudem sind die Taten von damals verjährt, denn erst seit dem 1. Januar 2013 ist sexueller Missbrauch von Kindern unter 12 Jahren nicht mehr verjährbar.
Seit das Parlament im Herbst 2016 dem Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative zugestimmt hat, können ehemalige Betroffene von Zwangsversorgungen, Verdingkinder und misshandelte Heimkinder nun auch ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag einreichen.
Philipp Gurt weiss, dass er die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann, aber er hat gelernt, damit zu leben und jeden Tag aufs Neue die schönen Dinge des Lebens zu entdecken. Er möchte allen Betroffenen Mut machen, ihr Schweigen zu brechen und mit Selbstvertrauen in die Zukunft zu schauen.