Christa Ulli: Herr Lewinsky, vor einem Jahr hatten wir schon Kontakt – da schnellte gerade die Auflage von Charlie Hebdo auf noch nie dagewesene 1 Million Exemplare. Sie sagten: «Solche Solidaritätsbewegungen neigen dazu zu verpuffen. Es reicht eben nicht, Bleistifte in die Luft zu strecken.» Und, ist alles verpufft?
Charles Lewinsky: Leider ja. Solidarität ist nun mal leider meist ein kurzfristiges Phänomen.
Aber gerade bei Charlie Hebdo war ja die Reaktion sehr breit abgestützt und sehr heftig. Ist da wirklich nichts übrig geblieben?
Nur weil eine Reihe Politiker in einer Schmierenkomödie «Solidarität» gemimt hat, heisst das noch lang nicht, dass sich wirklich etwas verändert. Lauthals die Selbstverständlichkeit zu verkünden, dass man Mörder nicht mag, macht einen noch lang nicht zu einem besseren Menschen.
Da muss man sich fragen: Was haben wir uns denn erhofft?
Ich war da nie sehr hoffnungsvoll. Eine Woche lang wird in Radio und Fernsehen über die Grenzen der Satire diskutiert. «Die Herrschaften reden gebildet aus dem Munde», hat Tucholsky das genannt und dann interessiert das Thema keinen mehr.
Wir reden jetzt wieder miteinander, und ich frage nochmals anders herum: Was haben Sie sich persönlich erhofft?
Ich habe mir nichts erhofft. Es passieren selten die Dinge, die passieren müssten.
Ich habe den Eindruck, dass intensiver als auch schon über Integration, Zuwanderung, Wertvorstellungen und Religionen, Zusammenleben gesprochen wird. Wie sehen Sie das?
Mit den Morden bei Charlie Hebdo hat diese Diskussion wenig zu tun. Und sie wird meistens nur reaktiv geführt, «das muss man doch einfach sagen» gegen «das wird man ja wohl noch sagen dürfen». Seinen Standpunkt lautstark vertreten ist eben einfacher, als dem anderen zuzuhören.
Wenn man sieht, was seither in Frankreich passiert ist: Das Attentat auf das Bataclan, der Amokfahrer von Nizza. Wie erleben Sie die Französinnen und Franzosen heute, wie leben sie in diesem durchgeschüttelten Land?
Der Rutsch nach rechts hat nicht erst mit den Attentaten angefangen. Das allgemeine Gefühl, dass das Land auf einem schlechten Weg ist, beobachte ich schon viel länger. Und so ein Grundgefühl macht es Vereinfachern mit unhaltbaren aber eingängigen Lösungsversprechen immer leicht.
Was meinen Sie mit «schlechtem Weg»?
Bei mir im Dorf hat noch vor ein paar Jahren niemand zugegeben, dass er Le Pen gewählt hat – aber der Prozentsatz ist mit jeder Wahl gestiegen. Jetzt ist es niemandem mehr peinlich. Gegen alles Fremde zu sein und sich eine imaginäre «gute alte Zeit» zurückzuwünschen ist Mainstream geworden. Was mich am meisten erschreckt: Viele Leute, die sich selber als links definieren – zum Beispiel die Anhänger von Mélenchon – argumentieren genau gleich wie die Rechten. Man will nicht wahrhaben, dass Frankreich, auch wegen der überrissenen Sozialleistungen und Frühpensionierungen, auf dem Weg zum Staatsbankrott ist, und schon gar nicht will man sein Anspruchsdenken zurückschrauben. Also braucht man einen Feind, der an allem Elend die Schuld trägt.
Sie sagten im Interview vor einem Jahr: «Was in Frankreich geschehen müsste, wäre die harte und schwierige Arbeit einer besseren Integration der ausgegrenzten «Secondos» in den Vorstädten.» Welche Bilanz ziehen Sie da?
Es hat sich, soweit ich es sehen kann, nichts verändert.
In wenigen Wochen wird der neue Staatspräsident oder die neue Staatspräsidentin Frankreichs gewählt. Wie sehen Sie diesen Wahlen entgegen?
Ich lese überall: Im zweiten Wahlgang werden sich alle gegen Madame Le Pen zusammentun. Ich bin mir da nicht so sicher. All die Klug-aus-dem-Munde-Redner waren sich auch ganz sicher, dass Donald Trump keine Chance hat.