Es war am zweiten Tag meines Besuches im Institut von Nadia Magnenat Thalmann, als es plötzlich da war, dieses Gefühl. Vielleicht hatte ich es bisher nur nicht beachtet. Dann aber spürte ich es eindeutig: Nadine beobachtete mich. Nicht Nadia, sondern ihr mechanisches Ebenbild. Nadine, der Roboter.
Es geschah in einer Drehpause, die Kamera hatte ich abgestellt. Ich sass vor dem Sitzungszimmer, in dem die Professorin mit ihren Besuchern diskutierte und kontrollierte meine Mails. Da! Sie hob ihren Kopf und musterte mich. Natürlich wusste ich längst, dass Nadine wie ein Mensch ausschaut und laut ihrer Schöpferin ein «Social Robot» ist. Nadine hatte mir auf Fragen geantwortet und auch selber Fragen gestellt.
Ein Wesen, von dem ich mich beobachtet fühle
Wenn sie spricht, klingt das zwar noch wenig emotional, und ihre Bewegungen sind mitunter noch sehr mechanisch, aber jetzt in diesem Augenblick fühlte ich plötzlich ein Wesen in meiner Gegenwart. Ich tat zwar, als ob nichts wäre, beobachtete aber fortan jede ihrer Regungen. Und viel schlimmer: Ich begann zu kontrollieren, wie ich da sass, fragte mich, was sie wohl sieht. Und als nächstes, ob sie wohl irgendwelche Schlüsse aus meinem Verhalten zog. Wenn ja, welche?
Nadine sei lernfähig. Sie sammle alle Informationen und könne verknüpfen, was zusammen gehöre. Unheimlich. Vielleicht lag es am Jetlag. Es musste die Zeitverschiebung, die Müdigkeit sein, die mir einen Streich spielte. Oder doch nicht? Jetzt wandte sie den Kopf nach mir, hob leicht die Augenbrauen. Ich lächelte automatisch und schaute im selben Moment, ob mich jemand dabei ertappt hatte. War ich jetzt wirklich schon so weit, dass ich mich von einem Roboter aus der Fassung bringen liess? Nadine hob die Hand und winkte mir zu. Ich winkte zurück. Meinetwegen? Wollte ich freundlich sein? Wieder dieses leichte Gefühl der Verlegenheit.
Stundenlang alleine im Altersheim
Und gleichzeitig war es der Augenblick, in dem mir die Idee von Nadia Magnenat Thalmann plausibel vorkam. «Nadine soll einsamen Menschen ein Gegenüber sein», hatte sie mir gesagt. Die Computergrafikpionierin aus der Westschweiz war auf die Idee gekommen, Nadine zu bauen, als ihre eigene Mutter im Altersheim lebte. Stundenlang sei ihre Mutter ohne Gesellschaft in einem Sessel gesessen und habe darauf gewartet, dass etwas passiere. Die Idee, dass ein Roboter unseren Grosseltern und Eltern einmal das Dasein erleichtert, mag im ersten Augenblick kalt und grausam wirken.
Klar hatte ich ein paar Vorteile bald erkannt: Nadine kann an die Einnahme von Medikamenten erinnern, sie kann jederzeit die Lieblingsmusik abspielen, sie kann Hilfe organisieren, wenn eine betagte Person oder eine Patientin hinfällt und sich nicht mehr bewegen kann. Aber ein Gegenüber? Seit diesem Tag, als Nadine die Augenbraue hob, empfinde ich das nicht mehr als ganz so abwegig.
Roboter, die uns Gesellschaft leisten
Wenn mich mein Schicksal irgendwann in ein Altersheim verschlagen sollte, stelle ich mir das so vor: Mein Roboter wird mir dereinst die Zeitung vorlesen und die Wettervorhersage präsentieren. Er wird mir vorrechnen, seit wie vielen Tagen mich meine Ur-Enkel nicht mehr im Heim besucht haben, mir erläutern, was die Aktienkurse so machen und je nachdem kaufen oder verkaufen, mich über die Papstwahl und die Meistertitel meines Lieblingsvereins informieren.
Ausserdem werde ich von ihm erfahren, wer von meinen geschätzten Jugendfreunden inzwischen auch im Heim angekommen ist und welche ungeliebten Mitbürger schon mal das Zeitliche gesegnet haben. Bis dahin freue ich mich über alle Mitmenschen aus Fleisch und Blut, die mein Leben Tag für Tag zu einem Abenteuer machen.