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SRF DOK Einfach in Ruhe erwachsen werden

Vor 3 Jahren begegnete Filmautorin Andrea Pfalzgraf der Familie der heute 14-jährigen Mais zum ersten Mal. Die syrische Grossfamilie lebt seit November 2013 in der Schweiz. Die sprachbegabte Mais wurde schnell zur Übersetzerin für ihre Familie. Heute will sie nicht mehr über Syrien sprechen.

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Andrea Pfalzgraf arbeitet seit 2009 im «DOK» und «Reporter»-Team. In ihren Filmen setzt sie sich vor allem mit sozialpolitischen Themen auseineander.

Im November 2013 traf ich Mais zum ersten Mal. Ein schmales, scheues Mädchen mit einem ungemein wachen Blick.

Als erste der 17-köpfigen syrischen Flüchtlingsfamilie sprach sie einige Sätze Deutsch. Ein Gedicht für den «Samichlaus» trug sie mir vor, als ihre Eltern vom Empfangszentrum in Allschwil ins Durchgangszentrum in Lyss transferiert wurden. Es war kurz vor Weihnachten, und sie kamen direkt aus dem Krieg.

Während der letzten drei Jahre habe ich die Familie immer wieder besucht. Im Durchgangszentrum waren sie über ein Jahr zusammen mit rund 180 Ayslsuchenden untergebracht. Später lebten sie in einer Wohnung am Rand von Bern, in einem grossen Wohnblock. Immer wieder war Mais dabei, wenn wir mit ihren Grosseltern, Tanten und Cousins filmten. Sie übersetzte oft für uns und sog – wie mir schien – alles Neue wie ein Schwamm auf.

Ich will mich nicht erinnern. Es tut weh.
Mais' Ankunft mit ihrer Familie in der Schweiz 2013
Legende: Mais' Ankunft mit ihrer Familie in der Schweiz 2013 SRF

Heute ist Mais 14 Jahre alt – ein Teenager – vieles ist ihr peinlich. Beim letzten Dreh mit ihr und ihrer Familie wollte sie plötzlich keine Fragen mehr beantworten. Eigentlich macht Mais alles, worum ihre Eltern sie bitten, so wurde sie erzogen. Doch obwohl ihre Eltern ihr zuredeten, bitte auf meine Fragen zu antworten, ginge nichts mehr. «Ich will mich nicht erinnern», sagte sie mir. «Es tut weh».

«Reporter»

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Sich zu erinnern würde für Mais zur Zeit die Integration und das Einleben in der Schweiz erschweren. Ich werde sie vielleicht später wieder für ein Gespräch treffen, dann, wenn sie bereit dazu ist.

Mais versucht wie tausende andere Kinder und Jugendliche hier Fuss zu fassen. Sie strengt sich sehr an, ist gut in der Schule – als ob sie damit zeigen müsste, wie dankbar sie ist. Sie möchte einfach ihre Ruhe, um ungestört erwachsen werden zu können. Das ist ihr gutes Recht, denke ich, als ich mich von ihr verabschiede. Ich wünsche es ihr so sehr.

Zum Schluss zeigt sie mir noch ihr Buch, das sie gerade liest. Was ihr daran gefalle, frage ich. «Weil es kein Happy End hat», ist ihre Antwort.

Ob sie sich irgendwann für ein Kopftuch entscheidet, weiss Mais noch nicht. Ob es ihr Halt geben würde oder ob es eher einschränkt beim Ankommen – auch das ist noch offen.

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