SRF DOK: Seit der Fertigstellung des Films ist einige Zeit verstrichen – hätten Sie damals je gedacht, dass David tatsächlich freikommen würde?
Ray Klonsky: Seine Freilassung war immer das Ziel, auch wenn es zwischendurch düster aussah. Nur selten geben Systeme zu Gunsten einer gerechten Sache nach, wenn sie nicht dazu gezwungen sind. Wenn aber Persönlichkeiten gewählt werden, denen der Systemwandel ein echtes Anliegen ist, kann so etwas vorkommen. Ken Thompson, der Bezirksanwalt von Brooklyn, ist eine solche besondere Persönlichkeit. Selbst jetzt, im Rückblick, kann ich kaum glauben, dass wir gewonnen haben. In manchen Jahren hatten wir die Hoffnung schon fast aufgegeben. Unsere Arbeit kam uns wie ein Selbstzweck vor, als ob wir sinn- und zwecklos nur ermittelten, um zu ermitteln. Als Privatdetektiv Van Padgett zu unserem Team stiess, wendete sich das Blatt allerdings. Er kam in Brooklyn zur Welt und ist dort aufgewachsen, ein echter Einheimischer. Er kennt die Gegend wie seine Westentasche und nahm Kontakt mit Leuten auf, die wir nie im Leben gefunden hätten. Nach diesem Anstoss fiel ein Dominostein nach dem anderen.
Was ist Ihre Meinung zu den zahlreichen Fehlurteilen in den USA?
Seit der Einführung von DNA-Tests und dank des grossen Einsatzes von Rubin Carter, Steve Drizen, Barry Scheck und vielen anderen wächst das öffentliche Bewusstsein, dass es sich hier um ein massives Problem handelt. Die Menschen merken langsam, dass sich Fehlurteile in schockierend vielen Fällen nicht ausschliessen lassen. Das Problem ist derart komplex, dass es sich kaum in einer einzigen Aussage umreissen lässt, reicht es doch von Videoaufnahmen der Befragungen über die grundsätzliche Sicherstellung, dass alle Beschuldigten und vor allem auch Jugendliche ihre Rechte wirklich kennen und nutzen können. Meiner Meinung nach tragen Fernsehsendungen wie «Serial» und «Making a Murder» durch ihre landesweite Verbreitung und ihre immer grössere Popularität dazu bei, dass wir allmählich die systemimmanenten Fehler erkennen. Dies ist der erste Schritt. Einerseits ist es wichtig, dass es Aktivisten gibt, die heute wie wir gegen jedes Element des Systems kämpfen, das Fehlurteile nach sich zieht. Andererseits werden wir erst am Ziel sein, wenn wir als Gesellschaft das Rechtswesen nicht als rächende, sondern als mitfühlende Institution betrachten.
Der Film endet mit Davids Entlassung aus dem Gefängnis. Wo fiel es ihm am schwersten, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern?
Diese Frage wollte ich nicht an Davids Stelle beantworten, daher habe ich ihn gefragt: Er sagt, öffentliche Räume mit grossen Menschenmengen seien problematisch. Subwayfahren in New York zum Beispiel! Als ich David früher im Gefängnis besuchte, achtete er grundsätzlich auf alles, was sich im Besucherraum tat. Wenn jemand aufstand, etwa um auf die Toilette zu gehen oder um sich etwas zu essen oder zu trinken zu holen, konnte David sich nicht länger auf unser Gespräch konzentrieren. In der Aussenwelt geht so etwas nicht, da immer viel zu viel los ist. Daran musste er sich erst gewöhnen.
Wie ist Ihr Verhältnis heute?
Wir haben eine richtig gute Beziehung zueinander. Alle paar Wochen treffen wir uns, ausserdem tauschen wir uns laufend via SMS aus. Er hat sich richtig schnell an die neue Technologie gewöhnt und ist ein ausgezeichneter Schreiber.
Womit beschäftigt er sich heute?
Er ist bei der «Manhattan Legal Aid Society» angestellt und hilft Leuten, die sich keine Rechtsvertretung leisten können – Leuten, die in derselben Lage sind wie er bei seiner Verhaftung. Vor Kurzem wurde er zum ersten Mal befördert. Jetzt bereitet er sich auf Aufgaben vor, bei denen er vermehrt mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, das hat er sich immer gewünscht. Wir freuen uns mit ihm, dass er vor Kurzem auch Vater geworden ist und in dieser Aufgabe richtig aufgeht. Er ist sehr glücklich.
Wie hat sich Ihr Leben verändert, seit Sie David kennengelernt haben?
Begegnungen mit jemandem wie David verändern die eigene Weltsicht – zwangsläufig. Dieser Prozess wird im Film grösstenteils geschildert, daher möchte ich nicht zu viel verraten. Die Entstehung des Films deckt sich mehr oder weniger mit der Zeit, in der ich erwachsen wurde. Natürlich habe ich mich in diesen acht Jahren sehr verändert. Aber dass jemand wie David in dieser wichtigen Phase nicht nur Teil meines Lebens, sondern auch Teil meines Ziels und meines leidenschaftlich verfolgten und allgegenwärtigen Projekts war, stellt für mich eine sehr wertvolle Erfahrung dar.