Was für ein Unwort: fremdplatziert! Kinder gehören nicht platziert, schon gar nicht an fremden Orten. Kinder sollen bei ihren Eltern aufwachsen. Was so einfach und einleuchtend klingt, ist in Wirklichkeit manchmal schlicht unmöglich.
Aus unterschiedlichsten Gründen: Eltern werden krank, Eltern handeln unverantwortlich, Eltern werden gewalttätig, Eltern sterben. Manchmal fängt das familiäre Umfeld, die Grosseltern zum Beispiel, die Situation auf, in anderen Fällen greifen die Behörden ein und platzieren die Kinder eben fremd, zum Beispiel in einem Kinderheim.
Nicht immer läuft das gründlich vorbereitet und sorgfältig ab, immer wieder erfolgen Heimplatzierungen aus Notsituationen heraus. Kinder werden von einem Tag auf den anderen aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, weg von den bekannten Bezugspersonen und leben fortan Tag und Nacht an einem fremden Ort, betreut von unbekannten Personen. Selbstverständlich meinen es alle gut und geben ihr Bestes. Nur: Reicht das, damit ein Kind eine solche traumatische Situation unbeschadet übersteht?
Ich habe im «Tipi»-Haus ausnahmslos sympathische, engagierte und hochprofessionelle Betreuungspersonen kennengelernt. Die Stimmung im Haus ist freundlich, das Essen hervorragend, die Kinder werden gefördert. Das «Tipi» wird keine Ausnahme sein, ich gehe davon aus, dass die Schweizer Kinderheime grundsätzlich tadellos geführt werden. Trotzdem: Für manche Eltern ist die Tatsache, dass ihre Kinder in ein Heim platziert werden, eine Katastrophe. Der «Fall Flaach» letztes Jahr hat das in radikalster Weise deutlich gemacht. «Dann hat man doch voll versagt», findet auch Kassandra, die ehemals drogenabhängige Mutter, die ich im «Tipi» kennengelernt habe und die alles daran setzt, mit ihrer Tochter zusammenbleiben zu können.
Dann hat man doch voll versagt.
Das Kinderheim ist in der Regel nur eine Übergangslösung. Falls eine Rückkehr in die eigene Familie nicht möglich ist, werden die Kinder in Pflegefamilien vermittelt. Das soll Kontinuität garantieren, Verlässlichkeit. Nadja und Thomas Weber sind Pflegeeltern und leben mit eigenen und Pflegekindern zusammen. Sie haben diese Aufgabe zu ihrem Beruf gemacht, ihr Modell gilt als Kleininstitution.
Die Tatsache, dass sie leibliche und Pflegeeltern sind, sorgt immer wieder für Diskussionsstoff. Für Nadja Weber ist klar: Beziehungen sind grundsätzlich unterschiedlich. Das versucht sie den Kindern zu vermitteln.
Im Verlaufe der Arbeit an diesem Film wurde mir klar: Die Strukturen, die Kinder in schwierigen Situation auffangen, sind gut, vermutlich häufig besser, als was den Kindern in den eigenen Familien geboten werden kann. Dennoch: Die Kinder begnügen sich nicht mit professioneller Distanz, sie suchen das, was ihnen zustünde: Wärme, Liebe, Beziehung. Das prägt.