«Die direkte Demokratie könnte man abschaffen!», sagt Uhrenarbeiter René von Burg. Die Vorlagen seien viel zu kompliziert. Seine Frau Beatrice, die Uhrenzeiger in filigraner Arbeit mit Farbe bedruckt, nickt. Wenn überhaupt, dann stimme sie nein. «Dann weisst du wenigstens, dass du nichts Falsches machst». Grenchen ist die Stadt der Nicht-Wähler: Rund zwei Drittel bleiben der Urne fern.
Die Schweizer Büezer
Statt mitzubestimmen, grillieren die von Burgs lieber mit ihren Kollegen im Schrebergarten. Dort schwärmen sie von der guten alten Zeit. Als Grenchen noch mehrere Dorfbeizen hatte, in denen man sich zum Feierabendbier traf, statt mit dem Handy am Ohr nachhause zu rennen.
Die ungelernte Beatrice von Burg muss Kurzarbeit leisten und ist froh, überhaupt noch eine Stelle zu haben.
Politologen sagen: Die Verlierer der Globalisierung wählen oft gar nicht mehr. Das liege auch an ihrem tiefen Bildungsniveau. Sie fühlten sich zu wenig kompetent und trauten sich kein politisches Urteil zu.
In Grenchen ist das Bildungsniveau tiefer als im Schweizer Durchschnitt.
Die Industriestadt
Die Stadt Grenchen zählt 17'300 Einwohnern und war schon immer einer einzigen Branche ausgeliefert: Der Uhrenindustrie. Vor 45 Jahren während der Boomphase waren rund 70 Prozent der Beschäftigten Uhrenarbeiter. Aber auch heute noch hängt jeder dritte Arbeitsplatz von der Uhrenindustrie ab.
Den Strukturwandel hin zu anderen Branchen hat die Stadt nicht geschafft. Zwar versucht die Stadtregierung, Hightech-Firmen in der Medizinaltechnik anzusiedeln, aber die neu geschaffenen Stellen entsprechen gerade mal drei Prozent aller Beschäftigten.
In diesem Sinn ähnelt Grenchen ausländischen Industriegebieten wie dem deutschen Ruhrpott. Orte, an denen sich die Schattenseiten der Globalisierung zeigen: Hohe Arbeitslosigkeit, viele Sozialhilfeempfänger. In Grenchen kommt ein hoher Ausländeranteil von 36 Prozent dazu.
Die zugewanderten Büezer
Zum Beispiel die bosnische Familie Djokic: Ehemann Stevica bekam vor 27 Jahren ein Jobangebot als Giesser. Seither lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in einem Hochhaus des Ausländerquartiers. In all diesen Jahren aber ist er nie richtig heimisch geworden und spricht nur schlecht Deutsch.
Seine Frau hat Angst, ein Einbürgerungsgesuch zu stellen, obwohl sie Mundart spricht. Die Servicefachangestellte befürchtet, in «Sippenhaft» mit ihrem Mann genommen und abgelehnt zu werden. Die Grenchner Bürgergemeinde hat in der Vergangenheit mehrmals so entschieden, obwohl das dem Bundesgesetz widerspricht.
Der Mittelstand
Renato Müller, der Verwalter der Bürgergemeinde, sieht nichts Schlechtes darin: Es sei wichtig, genau hinzuschauen bei Einbürgerungsgesuchen. Die Schweizer Einbürgerungspraxis sei zu lasch.
Er und seine Frau sind FDP-Mitglieder, in der Regel aber stimmen sie mit der SVP. Vor allem in Ausländerfragen. Bei der Europapolitik sind sie gekippt: Nachdem sie mehrmals für die Personenfreizügigkeit gestimmt hatten, befürworteten sie Höchstzahlen für Ausländer bei der SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung. Nirgendwo in der Schweiz war der Meinungsumschwung grösser als in Grenchen.
Die Ängste
Ehefrau Ursula Müller sorgt sich um Schweizer Bräuche, die durch die Zuwanderung verloren gehen, wie sie sagt. Sie betreut Schulkinder im Rahmen des städtischen Mittagstischs. Dabei habe sie gemerkt, dass Migrantenkinder nicht wüssten, was ein Zopf sei.
Bei der 55-Jährigen mischen sich kulturelle und ökonomische Ängste. Angesichts des Wandels fürchtet sie um die Identität der Schweiz. Obwohl es ihrer Familie wirtschaftlich gut geht, hat Ursula Müller Angst, an Wohlstand einzubüssen. In ihrem Job sieht sie nur die eine Seite der Zuwanderung: Kinder von wirtschaftlich oft schlechter gestellten Familien. Als Industrie- und Exportstadt ist Grenchen aber auf Migranten als Arbeitskräfte angewiesen.
Der Wandel
Während die Verlierer der Globalisierung wie das Uhrenarbeiter-Paar von Burg oft gar nicht mehr wählen, stimmen viele Leute des unteren Mittelstandes für rechtskonservative Parteien. Das gilt fürs Ehepaar Müller in Grenchen ebenso wie für viele Bewohner im deutschen Ruhrpott. Beides ehemals rote Hochburgen.
Während die SPD bei den Bundestagswahlen im Ruhrpott abstürzte, legte die Alternative für Deutschland (AfD) im zweistelligen Bereich zu. Die historische Arbeiterstadt Grenchen hat letztes Jahr ihre rote Regierungsmehrheit verloren. Die SVP hat nun gleich viele Sitze im Gemeinderat wie die SP. An einer Krisensitzung zeigen sich die Genossen ratlos.
Das Experiment
Grenchen – eine Gesellschaft ohne Gemeinschaft. Was tun? Auftritt des 21-jährigen Elias Meier. Wagemutig tritt der unerfahrene Parteilose gegen den amtierenden Stadtpräsidenten an.
Meiers Plan: Grenchens Einwohnerinnen und Einwohner im Rahmen eines Bürgerforums zusammenzubringen. Das Experiment beginnt im Schrebergarten. Dort wo die Ehepaare von Burg und Djokic nur wenige Meter voneinander entfernt gärtnern – und sich dennoch nicht kennen.
Der Student erfährt, dass die Ängste viel tiefer liegen, als er befürchtet hatte. Viele möchten ihre Meinung nicht öffentlich preisgeben und dazu stehen. Genau darum gehe es doch, sagt der 21-Jährige. «Warum können wir nicht mehr offen miteinander diskutieren?»