Die Schiebetür geht auf. Sie ist da. Aufnahme – der Kameramann filmt. Das Bild entspricht so gar nicht meiner Vorstellung einer schicksalsgebeutelten Mutter. Müsste sie jetzt nicht zusammenbrechen? Heulen? Wenigstens den Gepäckrollwagen geknickt durch die Flughafenhalle schieben? Nichts dergleichen.
Karin Trachsel wirkt erstaunlich gefestigt. Die 33-Jährige taucht in die Umarmung der Familie ein. Kairo liegt in diesem Augenblick weit hinter ihr. Monate der Verzweiflung, der Angst, des Ringens um ihre beiden Töchter. Nuran und Sarah; sie sind weg! Vor rund drei Jahren reiste Karin Trachsels damaliger Noch-Ehemann zusammen mit den Mädchen in seine Heimat Ägypten. Urlaub, sagte er. Doch er und die Kinder kehrten nie mehr zurück. Ich versuche, mir das vorzustellen: die eigene Tochter…
Ein greller Schmerz besetzt meinen Körper. Nicht einmal die Vorstellung ist auszuhalten.
Auszeit vom Schmerz
Wie steht Karin Trachsel das durch? Oder andere vom Leben hart getroffene? Wie gelingt das Weitermachen, Anknüpfen, Neubeginnen? Irgendwann gar ein Lächeln?
So, wie es Karin Trachsel gelingt; sie lächelt, hier am Flughafen, nach der Ankunft. Ihre Cousine hat für sie ein Schoko-Joghurt mitgebracht. Muss das sein? Ja! Es ist genau das Richtige – Auszeit, sich vom Schmerz eine Pause gönnen. Es hat eine Weile gedauert, bis Karin Trachsel das konnte. Zu Beginn schien ihr jedes Gefühl fern von Schmerz und Trauer ein Verrat an ihren Töchtern. Mittlerweile weiss sie: Man soll auch im Elend lächeln. Es hilft.
Tränen, bitteschön!
Noch immer stehen wir in der mit Menschen vollgestopften Ankunftshalle. Die Leute drehen sich nach Karin Trachsel um – der Kamera wegen. Nur kurz. Nein, das Gesicht sagt ihnen nichts. Anders daheim in Interlaken: Man kennt sie und man kennt ihre Geschichte.
Karin Trachsel ist die Mutter der vom Vater entführten Kinder. Die Umgebung knüpft unweigerlich Erwartungen an diese Rolle; es ist eine Opferrolle. Mit Opfern will man Mitleid haben können. Das gelingt – zugegebenermassen auch mir – einfacher, wenn sie der klischierten Vorstellung eines solchen entsprechen. Tränen, bitteschön! Auch das musste Karin Trachsel erst lernen: Sie muss diesem Bild nicht entsprechen. Es liegt ihr sowieso nicht. Sie bezeichnet sich selber als reserviert, nüchtern. Sie trägt nicht dick auf. Das hat für mich, als Reporterin, etwas Angenehmes. Weil was sagen? Welche Worte passen, wenn während des Interviews aus Hoffnung vorübergehend Hoffnungslosigkeit wird?
Der Alltag schleicht sich ein
«Arrivées» steht auf dem Flughafenschild über ihr. Karin Trachsel ist nicht an ihrem Ziel angekommen. Es fehlen die Töchter. Zu Beginn war es ein Leben im Ausnahmezustand: Nuran! Sarah! Weg! Die Mutter tat alles erdenklich Mögliche, um die Mädchen zurückzugewinnen. Vergeblich. Ein Jahr verging. Ein zweites Jahr verging. Ein drittes Jahr verging. Die Mädchen sind inzwischen fünf und sieben Jahre alt.
Nach Monaten in permanenter Aufruhr schlich sich Stück für Stück der Alltag wieder ein. Die Fortsetzung des Gewohnten. Aufgeben ist dennoch keine Option. Vielleicht wird nicht die Mutter die Mädchen, sondern werden die Mädchen eines Tages die Mutter finden. Wie ist das Unerträgliche zu ertragen? Hoffnung!
Karin Trachsel rollt den Gepäckwagen Richtung Ausgang. Es geht weiter. Es muss.