Es gibt eine finstere und eine lichte Zeit der Märchentiere – je nachdem, wohin man schaut. Zuerst in die dunkle Zeit, ins Mittelalter – und auch die Jahrhunderte danach waren wenig lichter: Der Wald vor dem Dorf oder vor der Stadt ist damals dunkel und gefährlich. Nicht nur lebt dort allerhand Gesindel, sondern er ist voll mit unbekanntem, unheimlichem Getier. Wildschweine, Wölfe, Bären … und man munkelt von Einhörnern und Drachen. Wer weiss schon, ob es die nicht wirklich gibt?
Dunkle Geschichten
Die meisten Menschen damals konnten nicht lesen, hatten nie eine Karte ihrer Welt gesehen. Alles, was sie wussten, war das, was man einander erzählte – wahr oder nicht, wer konnte das schon wissen? Der Wolf als Bestie, der nicht nur Schafe oder Ziegen tötete, sondern auch Kinder holte: Ein böser Feind. Und wenn Kinderschänder draussen vor der Stadt Kinder missbrauchten und dann töteten, damit sie nicht redeten, war das ein Wolf – ein Werwolf: Ein Mensch, der sich zur Untat in einen Wolf verwandelte. Das ist mehrfach durch Bilder und durch Chroniken belegt. Doch der üble Ruf blieb an ihm hängen, am echten Wolf, bis in unsere Zeit.
Bis die weissen Menschen kamen
In der lichten Zeit lehren Tiere in den Märchen die Menschen, wie man besser lebt: Bei indigenen Völkern, in Nordamerika bei den sogenannten Indianern etwa, die stets den Einklang suchten mit allen Wesen, mit denen sie ihre Welt teilten. Bis die weissen Menschen kamen, als Wirtschaftsflüchtlinge aus Europa zu Abertausenden und im Goldrausch alles überfluteten, die Bisons, die Wandertauben und die Wölfe beinahe oder völlig ausrotteten und nicht nur sie, sondern auch ganze Stämme indigener Menschen und so die jahrtausendealte Harmonie von Mensch und Natur zerstören mit ihrer sogenannten Zivilisation.
Was uns Tiere lehren
In den alten indigenen Mythen lehrt der Frosch den Menschen, wie man Hindernisse überspringt. Wie man im Einklang mit der Mutter Erde atmet, deren Rhythmus im Gesang der Frösche mitschwingt. Der Biber, der Lehm vom Grund des Wassers holt, und damit auf dem Rücken der Schildkröte das Land baut, auf dem wir alle leben. Und wo der Wolf der engste Freund des Menschen ist und gemeinsam mit ihm allen Dingen und Lebewesen auf der Erde einen Namen gibt. Wie sie sich trennen schenkt der Wolf dem Bruder Mensch den Hund, damit der Zweibeiner nicht so alleine ist … welch ein Unterschied zu den Wolfsgeschichten in Europa!
Von Generation zu Generation
Trotz aller Unterschiede haben Märchen durch alle Zeiten auf der ganzen Welt eine Gemeinsamkeit: Man muss sie erzählen – lesen gilt nicht. Das Erzählen aber, mit dem alles Wissen mündlich von einer Generation an die nächste weiter gereicht wurde, war das, was die Menschheit über Jahrhtausende hinweg immer weiter brachte. Was sind da schon lächerliche 500 Jahre Schriftgeschichte, in denen wir Informationen in grösserem Stil durch die Schrift konservieren? Wo stehen wir heute mit dem Erzählen?
Das Ende des Zuhörens
Unter dem elektronischen Tsunami, der mit der Informations- und Unterhaltungsflut in immer hektischeren Schnipseln auf allen Kanälen über uns hereinbricht, und uns zunehmend in virtuelle Welten und Beziehungen versetzt, riskieren wir eine uralte und grundlegend wichtige Eigenschaft der Menschheit zu verlieren. Nicht nur den Kontakt zur echten Natur der Dinge und zu den anderen Lebewesen, die mit uns auf dem Planeten leben. Sondern noch viel bedrohlicher: Wir verlernen, uns zusammen zu setzen und einander lange und aufmerksam zuzuhören.