SRF DOK: Herr Thomann, wie ist Ihre Arbeit mit der Stadt Winniza zu Stande gekommen?
Urs Thomann: Den Kontakt hat ein gebürtiger Winnzianer Architekt, mit dem ich in Moskau zusammengearbeitet hatte, geschaffen. Wolodymyr Groysman, damals Bürgermeister von Winniza, hat mich dann nach einem mehrtägigen Besuch in der Stadt überzeugt, eine Stelle in der Stadtverwaltung anzunehmen und mit Familie nach Winniza zu ziehen.
Wie hat sich Ihre Arbeit aufgrund der aktuellen Ereignisse im Ukraine-Konflikt verändert?
Die Arbeitsbedingungen haben sich in den vergangenen 14 Monaten fundamental verändert. Es begann alles mit den Protesten auf dem Maidan, wo viele Arbeitskollegen entweder aktiv teilnahmen oder sie waren gedanklich absorbiert. Seitdem haben sich die Arbeitsprozesse stetig verlangsamt.
Wesentlichster Einschnitt war dann der Wechsel von Bürgermeister Groysman in die ukrainische Übergangsregierung, viele Chefbeamte aus Winniza sind mit ihm nach Kiew gewechselt. Projekte in Winniza sind deshalb nicht nur aufgrund der Eskalation im Donbas und der schlechten Wirtschaftslage ins Stocken geraten, sondern auch weil schlicht die erforderlichen Kapazitäten in der Stadtverwaltung fehlen.
Wie schätzen Sie das Problem der Korruption in der Ukraine ein? Trauen Sie Präsident Petro Poroschenko zu, dagegen anzugehen?
Korruption im direkten Sinne – also Geld, das von Hand zu Hand wechselt – ist das einfacher zu lösende Problem. Diesbezüglich bin ich vorsichtig optimistisch, zum Beispiel, dass eine Reform der Polizei in Gang kommen kann und sich dies positiv auswirken könnte.
Die noch grössere Herausforderung ist, dass postsowjetische Gesellschaften – zumindest, diejenigen, die ich kenne – völlig durch Günstlings- und Vetternwirtschaft zersetzt sind. Auch ein Bürokratieabbau, sollte er denn wirklich erfolgen, wird wohl so schnell nicht ändern, dass zuerst einmal versucht wird, persönliche Beziehungen zu nutzen. Dieses System von gegenseitigen Gefälligkeiten nutzen die Menschen für die einfachsten Anliegen, wie beispielsweise dazu, einen Termin bei einem guten Arzt zu erhalten, bis eben hin zu grossen lukrativen Geschäften. Dieses Problem ist eine Nummer zu gross für Poroschenko.
Der ehemalige Bürgermeister von Winniza, Wolodymyr Groysman, wollte europäisches Flair in seine Stadt bringen. Was muss man darunter verstehen?
In der «europäischen Mission», der sich Groysmans Team verschrieben hat, geht es vor allem um bessere, städtische Dienstleistungen für einen höheren Lebenskomfort und um stärkere Bürgerbeteiligung für mehr Selbstverantwortung. Projekte nach Schweizer Vorbild sind die Reform des öffentlichen Verkehrssystems oder die Mitwirkung der Bürger bei der Gestaltung des öffentlichen Raums.
Hier in Winniza also europäisches Flair, im Osten der Ukraine Krieg – wie passt dies zusammen?
Der Bogen zum Krieg in der Ostukraine scheint da weit. Ist es aber wohl doch nicht, wenn man das Zerstörerische als Leitmotiv von Putins Politik und Handeln gegenüber seiner Nachbarstaaten Ukraine und Georgien beobachtet. In dem mit seinen Söldnern und Soldaten im Donbas geführten Krieg geht es Russland stark darum, eine Annäherung der ukrainischen Gesellschaft und des Staatswesens an europäische Werte und Standards zu verhindern.