Die Namen klingen unverdächtig: Simmen, Regli, Nager. Solide Urner Namen. Es sind die gleichen Namen im Telefonbuch wie auf dem Friedhof, jahrzehntelange Beständigkeit also. Realp ist ein kleines Bergdorf, zuhinterst und zuoberst im Urserntal, auf 1'550 Meter über Meer gelegen. Die Häuser ducken sich hinter einer mächtigen, haushohen Mauer, welche das Dorf gegen Naturgewalten schützt. Fast senkrecht über der Kirchturmspitze sind weit oben an der Bergflanke Lawinenverbauungen sichtbar. 150 Menschen leben hier – und geben seit Jahrzehnten immer wieder Rätsel auf.
Von den übrigen Urnern belächelt
Realp stimmt anders ab als eigentlich alle anderen Dörfer in den Alpen. Das war schon im Jahre 1970 so, als die Schweiz über die erste Überfremdungsinitiative, die Schwarzenbach-Initiative befand. Der Kanton Uri hatte der Initiative mit 63 Prozent Ja-Stimmen schweizweit am höchsten zugestimmt. Nur die Realper sagten «Nein», mit 25 gegen 20 Stimmen. «Ja» sagten die Realper hingegen 22 Jahre später zum EWR. Damals witzelten die übrigen Urner über die Realper, die hätten wohl gemeint, beim EWR gehe es um ein Elektrizitätswerk Realp. Und, man ahnt es, die SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung hatte hier oben keinen Erfolg.
Parteien «hier oben» nicht präsent
Gemeindeschreiber Karl Cathry ist seit 1970 im Amt, kennt also seit Jahrzehnten alle Zu- und Abgänge, vermag ein wenig ins Gemüt der Ansässigen zu blicken. Er ist schon hunderte Male gefragt worden, was eigentlich mit Realp los sei. Doch so richtig weiss er es auch nicht, man sei einfach seit jeher offen und lasse sich nichts sagen von den Parteien, die hier oben wegen der Kleinheit der Verhältnisse nicht präsent sind.
Doch dass nun Realp ein besonderes, eigenartiges Dorf sei, dies stellt der Gemeindeschreiber resolut in Abrede. Immerhin liegt das Dorf ganz nah am Gotthard, wo die Seele der Schweiz vermutet wird.
Niemand opponierte gegen Asylbewerber
Als der Bund vergangenes Jahr insgesamt 173 Asylbewerber nach Realp verfrachtete, opponierte niemand, jedenfalls nicht laut. Nun gut, die Afrikaner, Araber und Asiaten wurden noch etwas weiter bergwärts, auf 1'700 Meter in einer unterirdische Armeeunterkunft versteckt. Für das Bergdorf hatte das Menschenexperiment keine nachteiligen Folgen. Die fremden Menschen sind, wie geplant, wieder umplatziert worden, 39 sind untergetaucht, allerdings nicht in Realp.
In den 70er-Jahren waren die Realper die Minderheit im Dorf
Die 15 Ausländer, die in Realp leben, sind offiziell gemeldet. Nur 15 Ausländer? Da könnte man vielleicht zur Ansicht gelangen, dass die Realper nicht wissen, was ein Ausländer sei und deshalb so fremdenfreundlich abstimmen würden. Dann liesse sich aber auch umgekehrt verwundert sagen, dass das fast ausländerfreie Appenzell Innerhoden ja auch kaum Ängste gegenüber dem Fremden verspüren könne und trotzdem rekordhoch für die SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung gestimmt habe.
Nein, in Realp wissen sie durchaus, was ein Ausländer ist. In den 1970er-Jahren wuchs die Einwohnerzahl auf über 300 Menschen. Ein grosser Teil davon waren Ausländer, die den Furkatunnel gruben.
Willkommen, wenn auch zuweilen etwas einsam
Andreas Walger, Deutscher, ist einer der 15 Ausländer von Realp. Er ist Greenkeeper des Golf-Clubs Realp-Gotthard. Immerhin trägt der Präsident des Golf-Clubs einen Namen, wie er schweizerischer nicht sein könnte: Bernhard Russi. Als Walger vor einem Jahr sein Amt antrat, wussten bereits am Abend des ersten Arbeitstages schon alle Einheimischen seinen Namen.
Die Realper seien sehr gastfreundlich, sagt der Deutsche, doch für seine Frau, eine Weissrussin, sei es hier oben zuweilen schon etwas einsam, denn zum Einkaufen müsse man nach Andermatt fahren, für Kleider gar ins Unterland.
Der lustige Kellner auf Rollschuhen
Gelegentlich bürgert Realp Ausländer ein, die es in anderen, restriktiveren Gemeinden nicht schafften, Schweizer zu werden. Natürlich nicht ganz gratis. Stefano Sasso ist auf diesem Wege zum Realper geworden. Der gebürtige Italiener kam vor 50 Jahren als Saisonnier in die Schweiz, wo er in Andermatt als Kellner auf Rollschuhen für die Gäste im Restaurant Pinto den lustigen Italiener spielte. Dass er nach Arbeitsschluss oft traurig war, bekam niemand mit. Ihm und seiner Frau fehlte das Töchterchen sehr. Doch als Saisonniers mussten die Sassos das Kind bei der Grossmutter in Italien zurücklassen. Noch heute würden ihn deswegen gelegentlich Schuldgefühle plagen, sagt der ältere Herr. Stefano Sasso konnte später das Hotel Schweizerhof in Andermatt günstig kaufen. Denn als der Gotthardstrassentunnel 1980 eröffnet worden war, glaubte niemand mehr an den Tourismusort Andermatt oben an der Passstrasse.
Schwieriger erwies sich der Erwerb des Schweizer Bürgerrechtes. Andermatt, seine Wohngemeinde, sagte «Nein» mit dem Hinweis auf seine diffizile «Militärlastigkeit». Die Nachbargemeinde Göschenen, unterhalb der Teufelsbrücke gelegen, wollte auch nicht. Realp gab ihm dann den Schweizerpass. Dafür ist Stefano Sasso dem widerspenstigen Dorf heute noch dankbar. Und so ist seither an jeder Fasnacht die Guuggenmusig von Realp in Sassos Hotel Schweizerhof zu einem Apéro eingeladen.
Es braucht den Anderen
Nach längerem Abwägen, warum Realp so sei wie es sei, meint Gemeindeschreiber Cathry, vielleicht habe es auch mit der Geschichte der Gemeinde zu tun: Seit jeher habe man hier oben Lawinenkatastrophen erleiden müssen und dabei viel auswärtige Hilfe erfahren dürfen. Womöglich habe dies das Bewusstsein geschärft, dass es den Andern brauche.
Alle Zitate stammen von Protagonisten aus dem «DOK»-Film «Gegen das Fremde – Der lange Schatten des James Schwarzenbach», Donnerstag, 16. Oktober 2014, 20:05 Uhr, SRF 1.