SRF DOK: Was hat Sie dazu bewogen, über das Thema Vergewaltigung einen Dokumentarfilm zu realisieren?
Philippe Mach: Bei einer Vergewaltigung kommen alle menschlichen Perversionen und Gewalttätigkeiten zusammen. Auch die zerstörerischste Gewalt, das Schweigen, die Heimlichkeit. Mit dieser Reportage wollen wir dieses grosse Schweigen brechen, und Opfer von Vergewaltigungen ermutigen zu reden. Nicht unbedingt mit den Medien oder der Polizei, aber wenigstens mit den Angehörigen, mit einer nahestehenden Person, einem Therapeuten und mit sich selbst. Wir wollten über Reaktionen wie «Das ist ja furchtbar!» und «Die Ärmste!» hinausgehen und über Wege sprechen, wie solche traumatischen Erlebnisse zu überwinden sind.
Marc Wolfensberger: Ausserdem haben wir uns dazu entschieden, die Frauen offen, mit direktem Blick in die Kamera zu filmen. Die Gesichter also nicht unkenntlich zu machen, wie es noch häufig in Beiträgen zu diesem Thema gemacht wird. Warum? Weil wir davon ausgehen, dass diese Frauen nichts zu verheimlichen haben. Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Das Verschulden trägt das Gegenüber: der Vergewaltiger.
Ist es möglich, das Trauma einer Vergewaltigung zu überwinden?
Philippe Mach: Es gibt nur ein einziges nicht überwindbares Trauma, den Tod. Wir alle leben mit mehr oder weniger belastenden, traumatischen Erlebnissen. Millionen von Frauen und Männern leben mit den Erinnerungen an eine Vergewaltigung. Zu denken, dass ein solches Trauma nicht zu überwinden sei, hiesse, das Problem zu verstärken und das Verbrechen zu verschlimmern. Aussagen wie «Wird eine Frau vergewaltigt, ist sie am Ende. Wenn sie sich fängt, war's keine echte Vergewaltigung» sind falsch. Sie tragen dazu bei, dass die Frauen die Schuld bei sich suchen und schweigen. Mit dem Schweigen wächst das Trauma. Es ist ein Teufelskreis. Ich betone noch einmal: Um das Trauma zu überwinden, muss zuerst dieses konspirative Schweigen durchbrochen werden. Und es muss damit aufgeräumt werden, dass dieses Trauma fatalistisch hingenommen werden muss.
Marc Wolfensberger: Daneben sind auch bestimmte Regeln wichtig. Der Film zeigt, dass der Heilungsprozess umso schneller greift, je früher die Menschen reden – mit ihrem Umfeld, im Spital, egal, mit wem. Auch das Gegenteil wird klar: Je länger sie zuwarten, desto schwerer wiegt das Schweigen. Sie erstarren. Das ist zum Beispiel bei Marie-Ange Brélaz der Fall. Sie erklärt im Film, weshalb sie dreissig Jahre gewartet hat, bevor sie das Schweigen brach.
Vier Frauen reden in Ihrem Film über die Vergewaltigungen, die sie erleben mussten. Rasch wird jeweils der Vorwurf erhoben, dass Opfer in den Medien nochmals missbraucht werden. Wurden Sie als Filmemacher auch mit diesem Vorwurf konfrontiert?
Marc Wolfensberger: Das war ein besonders heikler Punkt. Es bestand die Gefahr, dass die vier Frauen durch die Erinnerung das Trauma der Vergewaltigung ein weiteres Mal durchleben mussten. Mehrere Psychologen hatten uns davor gewarnt. Zum Glück haben die Frauen, die wir ausgesucht hatten und die bereit waren, sich vor der Kamera zu äussern, schon einen langen Heilungsweg hinter sich. Nehmen wir zum Beispiel den französischen Tennisstar Isabelle Demongeot: Sie hat fast zehn Jahre lang vor Gericht gekämpft und schliesslich Recht bekommen. Dasselbe gilt für Cécile Zec. Der Vergewaltiger wurde nach jahrelangem Prozess zu achtzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Wir haben auch darauf geachtet, dass nicht der Missbrauch im Zentrum steht – sondern der Prozess, mit der Vergewaltigung fertigzuwerden.
Was ist wichtig, damit Opfer in den Medien eben nicht nochmals missbraucht werden?
Marc Wolfensberger: Genau überlegen, was man sagt, was man schreibt... Es ist nicht Aufgabe der Medien über Menschen zu richten. Das ist Aufgabe der Justiz. Leider liest oder hört man in den Medien viel zu oft vernichtende Sätze wie «sie war aufreizend angezogen» oder «sie hatte zu viel getrunken», als müsse sich das Opfer rechtfertigen. Dabei hat sich einzig und allein der Täter zu erklären.
Es gibt Kreise – vor allem feministische – die es männlichen Journalisten absprechen, über Vergewaltigung berichten zu können. Sie waren gleich zwei Männer, die diesen Film gemacht haben. Wurden Sie mit solchen Vorurteilen auch konfrontiert? Was entgegnen Sie?
Philippe Mach: Muss man Jude sein, um über den Holocaust zu sprechen? Natürlich nicht! Dasselbe gilt für Vergewaltigungen, die ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, gegen uns alle. Die meisten Menschen begreifen nicht, was eine Vergewaltigung ist. Oder sie wollen es nicht wissen und halten an ihren festgefahrenen Vorstellungen fest. Deshalb ist es so wichtig darüber zu reden, vor allem auch mit jungen Menschen. Die Männer von diesen Gesprächen auszuschliessen, unter dem Vorwand, «dass sie das nicht verstehen können», hiesse, das Problem zu verschärfen. Diese ideologischen Einschüchterungen sind vernichtend.
Sie beide haben lange an diesem Dokumentarfilm gearbeitet. Haben Sie auch für sich persönlich etwas gelernt?
Philippe Mach: Ja, sehr viel. Vor dreissig, vierzig Jahren kam es praktisch nie vor, dass ein Vergewaltigungsopfer das Schweigen brach, und es öffentlich zu tun, war völlig undenkbar. Heute sprechen starke, intelligente Frauen offen darüber und tragen so dazu bei, dass sich etwas verändern kann. Sie sind die echten Kämpferinnen unserer Zeit. Ihnen ist es zu verdanken, dass Schuld und Scham endlich die Seite wechseln.
Gegen das Schweigen
Marc Wolfensberger: Ich lernte, dass das gesellschaftliche Urteil genauso vernichtend sein kann wie die Vergewaltigung selbst... Folglich dass wir alle verantwortlich sind für die Stigmatisierung. Manon hat mich auch stark beeindruckt und beschäftigt. «Sie haben alles kaputt gemacht, aber ich habe alles wieder aufgebaut… », sagt die junge Frau am Ende der Reportage. Das ist stark. Ich habe auch nach dem Dreh mehrmals mit ihr gesprochen und ich bin überzeugt, sie empfindet tatsächlich, was sie sagt: Dass sie wirklich und dauerhaft abgeschlossen hat. Heute ist sie kein Opfer mehr, sie ist ein Ex-Opfer.