Mit zitternder Hand stochert Félix Dorsaz im Gartenbeet. «Natürlich biologisch», sagt der 69-Jährige. Bei synthetischen Spritzmitteln aber kennt er sich aus: Er hatte den Hof seines Vaters in der Walliser Gemeinde Fully übernommen und von 1987 bis 1997 Obstbäume und Gemüse gespritzt.
Am Scheunentor klebt, verwittert und vergilbt, eine Liste mit zugelassenen Pestiziden aus dem Jahr 1989. Zwei Drittel sind heute verboten. 2012 die Diagnose: Parkinson. Chemische Produkte seien schuld an seiner Krankheit. Zwar könne sein Arzt die Krankheit nicht auf ein einzelnes Pestizid zurückführen, dafür fehlten die Beweise. «Auf jeden Fall habe ich über die Jahre einen veritablen Cocktail abbekommen», meint Félix Dorsaz. Zudem habe er bei einer früheren Tätigkeit in einer Salzmine einmal im Jahr mit chemischen Stoffen hantiert.
Gesundheitsdaten zur chemischen Belastung der Bevölkerung fehlen
Kann das Spritzen von Pestiziden Parkinson auslösen? Das Staatssekretariat für Wirtschaft verweist auf die Meta-Analyse der schwedischen Universität Örebro, die wissenschaftliche Studien überprüft hat: Wer beruflich irgendeinem Pestizid ausgesetzt ist, hat ein mindestens 50 Prozent höheres Risiko, an Parkinson zu erkranken.
In Frankreich ist Parkinson seit 2012 eine anerkannte Berufskrankheit bei Bäuerinnen und Bauern. «Warum nicht auch in der Schweiz?», fragt Félix Dorsaz. In Sachen Daten zur chemischen Belastung der Bevölkerung ist unser Land aber Terra incognita: Weder ist bekannt, wie viele Bäuerinnen und Bauern an Parkinson erkranken, noch wird zentral erfasst, welche Pestizidmengen sie einsetzen. Der Bund will bis 2025 ein Informationssystem entwickeln.
Aufschluss geben über die chemische Belastung der Bevölkerung durch Schadstoffe, soll die sogenannte «Schweizer Gesundheitsstudie», die 2017 angekündigt wurde. Bei Pestiziden wird allerdings nur Glyphosat untersucht, und besonders vulnerable Gruppen wie Kleinkinder und Schwangere wurden nicht getestet. Die Ergebnisse der Pilotstudie, die Blut- und Urinproben von 789 Bürgerinnen und Bürgern auswertet, verzögern sich seit einem Jahr. Erste Resultate würden diesen Sommer erwartet, sagt die Zuständige beim Bundesamt für Gesundheit (BAG).
Der Cocktail-Effekt
Toxikologen kritisieren, dass bei der Zulassung von Pestiziden nur ein Wirkstoff bewertet wird statt des Cocktails, der mit der Nahrung aufgenommen wird. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit (BLV) entgegnet: «Gemäss den verfügbaren wissenschaftlichen Daten gibt es momentan keine Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung durch Cocktail-Effekte.»
Drei befragte Toxikologen, die in England, Finnland und Deutschland forschen, reagieren verwundert auf diese Aussage. Für eine generelle Entwarnung sei die Datenlage zu schlecht. Die EU-Studien zu Cocktail-Effekten, auf die sich das BLV beruft, haben nur deren Wirkung auf die Schilddrüse und aufs Nervensystem untersucht. Die Wirkung auf andere Organe, aufs Immunsystem oder die Reproduktion aber seien unerforscht.
Ausserdem, so sagen die Toxikologen, sei der Fokus auf Pestizide künstlich. Reguliert werden müsste der ganze Chemikalien-Mix mit tausenden von Stoffen, dem der Mensch ausgesetzt ist: Schwermetalle, Weichmacher, perfluorierte Chemikalien, Flammschutzmittel, hormonell wirksame Stoffe in Kosmetika etc. Aber da steht auch die EU noch ganz am Anfang.
Fehlinformation des Pestizid-Herstellers
Ein Pestizid, das der an Parkinson erkrankte Bauer Félix Dorsaz eingesetzt hatte, ist das heute verbotene Nervengift Chlorpyrifos. Gemäss epidemiologischen Studien kann es die Gehirnentwicklung von Kindern schädigen, wenn sie im Mutterleib Chlorpyrifos ausgesetzt waren. In der Schweiz wurde Chlorpyrifos vermutlich 1976 erstmals zugelassen. Aufgrund von welchen Studien? Die Zulassungsbehörde weiss es nicht, im Archiv sei nichts mehr auffindbar.
Klar ist: Herstellerfirmen finanzieren und geben Tierversuchsstudien in Auftrag, mit denen sie Pestizide auf ihre Sicherheit prüfen lassen. Ein Interessenskonflikt, sagt der deutsche Chemiker Axel Mie. Er hat herausgefunden, dass die US-Herstellerfirma Dow AgroSciences (heute Corteva) 1999 eine falsche Zusammenfassung zu einer Chlorpyrifos-Studie bei der EU-Zulassungsbehörde eingereicht hatte. Inhalt: Der Wirkstoff schädige die Gehirnentwicklung von jungen Ratten nicht und sei somit keine Gefahr für Menschen.
Axel Mie aber errechnete anhand der Rohdaten, dass die Entwicklung der Rattenhirne schon bei der kleinsten getesteten Dosis geschädigt war. «Ich sass in meinem Büro und war ziemlich geschockt», erinnert sich der Chemiker. US-Herstellerin Corteva bestritt Axel Mies Analyse und meinte, es gäbe keinen Beweis dafür, dass Chlorpyrifos die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigt – weder beim Menschen noch bei Tieren.
Die EU aber sah das anders und entschied 2020, Chlorpyrifos zu verbieten – auch wegen den Erkenntnissen von Axel Mie. Auch in der Schweiz ist Chlorpyrifos seit 2020 verboten. Die Zulassungsbehörde schreibt, sie hätte die Studie von 1999 nicht bekommen. Man habe Chlorpyrifos erst 2015 überprüft und dabei nur auf Risiken für die Umwelt fokussiert.
Chlorpyrifos – ein Einzelfall?
Das Verbot 2020 sei 20 Jahre zu spät gekommen, sagt Axel Mie. Die Behörden hätten Chlorpyrifos schon 1999 verbieten oder mit strengen Auflagen versehen müssen. Warum hatte die EU den Fehler damals nicht bemerkt? Vermutlich hätten die Beamten sich nicht die Zeit genommen, die 838 Seiten der Originalstudie zu lesen, sagt Chemiker Mie. «Sie hätten bis auf Seite 664 lesen und statistische Analysen machen müssen, um den Effekt zu finden.»
Vermutlich haben sich die Beamten nicht die Zeit genommen, die 838 Seiten der Originalstudie zu lesen.
Chlorpyrifos – ein trauriger Einzelfall? Nein, sagt der Chemiker, der an der Universität Stockholm forscht. Die Herstellerfirmen seien interessiert daran, ihre Pestizide als sicher darzustellen, um möglichst viele Mittel verkaufen zu können. Die Behörden wiederum hätten nicht die Ressourcen, um alle Herstellerstudien neu auszuwerten. Axel Mies Schlussfolgerung: Das Zulassungssystem könne nicht verhindern, dass die Bevölkerung geschädigt werde. «Das ist schockierend.»
Fehlender Überblick
Was sagt die Zulassungsstelle beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit zu diesem Vorwurf? Nichts Konkretes. Auch auf Bitte um Präzisierung nicht. Das Amt schreibt nur: «Pflanzenschutzmittel werden nur zugelassen, wenn sie die Kriterien der Pflanzenschutzmittelverordnung erfüllen.»
Eine Quelle im Innern der Behörde aber bestätigt Axel Mies Aussage auf allgemeiner Ebene: Wenn die Zeit dränge, schaue man nur die Zusammenfassungen der Herstellerfirmen an anstelle der Rohdaten in den Originalstudien. Und die Zusammenfassungen seien interpretiert. Ausserdem könne man nicht behaupten, den Überblick über alle Stoffe zu haben, dafür habe man zu wenig Personal.
Behörden «massivst überlastet»
Eigentlich wollte der Bundesrat die Zulassung von Pestiziden verbessern: Auf Anfang Jahr hat er die Verantwortung vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) zum Bundesamt für Lebensmittelsicherheit transferiert, weil das BLW wegen seiner Nähe zu den Bäuerinnen und Bauern kritisiert worden war. Der Fachbereich Toxikologie Pflanzenschutzmittel beim BLV wurde von 2.4 auf 5.2 Vollzeitstellen aufgestockt.
Seit sechs Jahren warten wir auf einen Entscheid zu zwei Produkten mit neuen Wirkstoffen.
Uwe Kasten, Landesleiter Pflanzenschutz Schweiz von BASF kritisiert, die Behörden seien «massivst überlastet». Seit sechs Jahren warte man auf einen Entscheid zu zwei Produkten mit neuen Wirkstoffen. Pro Produkt hat BASF rund 17'000 Seiten an toxikologischen Daten eingereicht.
Österreich beschäftigt doppelt so viele Toxikologen und hat dabei weniger Arbeit: Im Gegensatz zur Schweiz kann das Nachbarland auf die Datenbank der europäischen Lebensmittelbehörde Efsa zugreifen. Und es profitiert von der sogenannten «zonalen Zulassung»: In EU-Ländern mit vergleichbaren klimatischen Bedingungen prüft ein Staat ein neues Pestizid für die anderen. Der Schweiz aber fehlt ein Abkommen mit der EU zur Regelung der Pestizide. Die Verhandlungen darüber sind seit Ende 2018 wegen der Probleme bei den institutionellen Fragen mit der EU blockiert.
Gesundheitsschutz in Gefahr?
In der Schweiz sehen Humantoxikologen des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit den Gesundheitsschutz in Gefahr. In internen Protokollen, deren Herausgabe SRF mit dem Öffentlichkeitsgesetz verlangen konnte, klagen sie: Die Datenlage sei «anders als in der EU zunehmend veraltet und bruchstückhaft».
Verantwortlich dafür ist die Bundesverwaltung selbst. Auf Antrag des Bundesamts für Landwirtschaft wurde die Verordnung verändert. Waren Pestizide früher nur für zehn Jahre zugelassen, sind sie seit 2019 unbefristet gültig. Das heisst: Die Pestizid-Hersteller sind nicht mehr gezwungen, vollständige und aktualisierte Datenpakete einzureichen, damit ihr Produkt auf dem Markt bleibt.
Die Toxikologen können nur noch Teilbereiche überprüfen, wobei sie weniger Informationen bekommen, wie sie sagen. Zwar werden überprüfte Pestizide oft mit strengeren Auflagen versehen. Aber da die Mittel jetzt unbefristet gültig sind, ist es für die Beamten schwieriger, ihre Bewilligung zurückzuziehen. Darum wollen sie die Verordnung wieder verschärfen.
Im Walliser Weinbaugebiet Fully zeigt sich der an Parkinson erkrankte Félix Dorsaz desillusioniert. Die im letzten Jahr verlorene Abstimmung über die Pestizid- und Trinkwasserinitiative macht ihn wütend. Vielleicht habe man früher nicht um die Gefahr von Spritzmitteln gewusst. «Jetzt aber kennt man sie.»