Das Phänomen ist noch neu und doch schon stark verbreitet. Eltern, die alles geben für ihren Nachwuchs. Nicht schulische Leistungen werden unterstützt, sondern die Gestaltung der Freizeit. Heute ist von «Manager-Eltern» die Rede, wenn die Hobby-Aktivitäten der Kinder in den familiären Lebens-Mittelpunkt gerückt werden und das Haushalt-Budget stark belasten. In der Regel beginnt alles harmlos. Erst mit den Jahren wird es so richtig intensiv und teuer. Ausrüstung, Privatstunden, Transporte. Die Eltern leisten Fahrdienste und haben kaum mehr Zeit für sich. Sie sind dauernd dort wo die Kinder trainieren.
Familie Bosanac ist in der Eishalle daheim
Die Familie Bosanac wohnt ganz in der Nähe der Kunsteisbahn von Zürich-Oerlikon. Auch darum tummelten sich die drei Kinder schon früh auf dem Eis. Heute findet das Familienleben hauptsächlich in der Eishalle statt. Obwohl die Eltern in ihrem Leben noch nie auf Schlittschuhen standen. Tochter Julia (12) dreht mit Leidenschaft ihre Piroutten auf dem Eis und die Jungs Petar (9) und Nikola (7) haben als Nachwuchs-Hockeyaner grossen Spass am «Chneble».
Unter der Woche geht’s nach der Schule meistens zum Training. Die Eltern sind immer dabei, auch an den Wochenenden, wenn die sportlichen Aktivitäten der Kinder häufig irgendwo in der Schweiz stattfinden. Mit jährlich 20’000 Franken belastet vor allem der Eiskunstlauf das Familien-Budget. Dagegen ist die Hockey-Ausrüstung der Buben geradezu billig. Aber für grosse Ferien liegt vorläufig trotzdem kaum noch etwas drin.
Familie Nussbaumer leistet unzählige Fahrdienste
Das Talent ist Raphael Nussbaumer wohl in die Wiege gelegt worden. Auch wein Vater und Grossvater sind Musiker. Sein Götti schenkte ihm zur Taufe eine Geige. Dass Raphael nur 13 Jahre später aber als Solist bereits auf einer grossen Konzertbühne stehen könnte, hätte trotzdem niemand gedacht. Neben seiner Begabung und seinem Fleiss, hat ihn die Unterstützung der Eltern soweit gebracht.
Am Musik-Konservatorium Zürich wurde Raphaels Talent früh erkannt und gefördert. Schon als Fünfjähriger wurde er am «Konsi» zum Privat-Unterricht zugelassen. Der damit verbundene Aufwand ist für die Eltern enorm. Mehrmals in der Woche holt ihn ein Mitglied der Familie direkt nach der Schule ab und fährt ihn von Altendorf (SZ) nach Zürich zum Unterricht und zu anschliessenden Orchesterproben. Zuhause übt Raphael täglich bis zu fünf Stunden. Wohin der Weg den jungen Künstler schliesslich führen wird, lässt sich nicht voraussagen. Tatsache ist: Wenn ein Sinfonieorchester einen Violonisten sucht, bewerben sich mehrere hundert Kandidaten.
Familie Rosamilia ist durchorganisiert
Wo andere Familien gemütlich auf dem Sofa chillen, stehen im Wohnzimmer bei der Familie Rosamilia in Hunzenschwil (AG) vier Rennvelos auf Rollen. Wenn Tiziana (11), Adriano (12), Nina (15) und Valentina (16) zuhause sind, messen sie sich gerne bei einem familiären Velorennen vor dem Bildschirm.
Die sechsköpfige Familie ist nicht nur aussergewöhnlich sportlich – die Kinder sind auch überdurchschnittlich erfolgreich. So kamen in den letzten Jahren einige hundert (!) Medaillen und Pokale zusammen. Inzwischen fehlt dafür in der Wohnung der Platz.
Fast an jedem Wochenende nimmt das Quartett irgendwo in der Schweiz an einem Lauf teil. In ihren Altersklassen schaffen es die vier Kinder fast immer aufs Podest. Bei den Rosamilias sind Organisation und Logistik das A und O. Bevor Caroline und Gerardo Kinder hatten, waren sie Doppelverdiener und sportlich unterwegs. Nun investieren sie auf ihre Weise in den Nachwuchs, in der Hoffnung, der Sport mache die Kinder fit fürs Leben. Auf Erfolgskurs ist im Moment vor allem die älteste Tochter Valentina. An der europäischen Jugend-Olympiade in Baku holte sie im Sommer für die Schweiz die Silbermedaille im 800 Meter-Lauf.
Geförderte Kinder, überforderte Eltern?
SRF: Viele sogenannte «Manager-Eltern» sehen sich mit dem Vorwurf ihres Umfeldes konfrontiert, sie würden ihr Kind zu sehr pushen. Die Eltern wiederum sehen das eigene Kind als Treiber, das sich die Aktivität wünscht. Wie schätzen Sie diese Diskrepanz ein?
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund: Es gibt Eltern, die sehr früh Karrierepläne für ihre Kinder schmieden und entsprechend pushen. In den meisten Fällen ist es jedoch keine bewusste Entscheidung. Das Kind beginnt mit einer Sportart oder einem Instrument, zeigt sich etwas ehrgeiziger, motivierter und talentierter als andere und macht schneller Fortschritte. Es erzielt erste Erfolge wie Turniersiege und erhält Anerkennung für seine Leistung.
Druck entsteht, wenn Kinder vor allem weitertrainieren, weil sie Angst haben, das zu verlieren.
Jetzt liegt es nahe, mit zunehmendem Alter das Training zu intensivieren, um sein Talent auszuschöpfen. Mit der Zeit wird das Hobby und die dadurch erzielten Erfolge zu einer sehr wichtigen Quelle von Anerkennung für das Kind, das Umfeld aus Trainer und anderen Sportlerinnen oder Musikerinnen zu seiner sozialen Bezugsgruppe. Druck entsteht, wenn Kinder und Jugendliche vor allem weitertrainieren, weil sie Angst haben, das zu verlieren.
Warum «tun» sich diese Eltern das überhaupt «an»?
Das kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Viele Eltern sportlicher Kinder sind selbst sportbegeistert. Es ist für sie eine Gelegenheit, eine Leidenschaft mit dem Kind zu teilen, Zeit mit ihm zu verbringen. Zudem ist es in unserer Kultur zurzeit hoch angesehen, wenn Eltern ihrem Kind dabei helfen, seine Ziele zu erreichen und sein Potential zu entfalten.
Laufen diese Eltern nicht Gefahr, in ein Burnout zu laufen?
Diese Gefahr besteht. In manchen Familien wird die Karriere des Kindes plötzlich zum Mittelpunkt. Die Eltern investieren schleichend immer mehr Zeit und je nach Hobby auch sehr viel Geld in die Förderung, Wettkampfvorbereitung oder in Sachgegenstände.
Das kann zu einer Überforderung der Eltern führen. Es kann aber auch sehr viel Druck beim Kind auslösen, wenn es sieht, wieviel seine Familie investiert. Nicht selten glaubt es, diese Investition durch Erfolge «zurückzahlen» zu müssen.
Wo liegen die grössten Herausforderungen für solche Familien?
Es ist schwierig für sie, eine Balance zu finden zwischen den Bedürfnissen aller Familienmitglieder. Der Sport oder die Musik kann so wichtig werden und so viel Zeit beanspruchen, dass sich beispielsweise Geschwister vernachlässigt fühlen, wenn sich alles um die «Karriere» des anderen Kindes dreht.
Wie steht es bei diesen Kindern, die in ihrer Freizeit so stark gefordert sind, um ihre schulischen Leistungen?
Erstaunlicherweise sind diese Kinder und Jugendlichen oft auch in der Schule diszipliniert, gut organisiert und ehrgeizig und bringen entsprechende Leistungen.
Das Problem liegt eher darin, dass neben Sport / Musik und Schule kaum mehr Zeit bleibt, und diese Kinder und Jugendlichen kaum aus dem «Leistungsmodus» herauskommen.
Was raten Sie Eltern grundsätzlich, wenn es um die Vereinbarkeit von Schule und Freizeitgestaltung geht?
Wie viele Freizeitaktivitäten einem Kind noch guttun, ist sehr unterschiedlich. Leider können Eltern ihre Kinder in diesem Punkt oft schlecht einschätzen. Studien zeigen, dass sehr viele Eltern von stark gestressten Kindern nicht merken, dass ihr Kind am Limit ist und sogar glauben, dass sie es zu wenig fördern.
Das liegt auch daran, dass Kinder ihren eigenen Stress oft noch nicht gut wahrnehmen und in Worte fassen können. Eltern denken auch oft, man würde es den Kindern an einer zunehmenden Müdigkeit anmerken, falls es zu viel wird.
Oft sind diese Kinder aber gereizt, aggressiv, rasch gelangweilt oder sie ziehen sich zurück und verlieren das Interesse, den Appetit, schlafen schlecht oder klagen über Kopf- bzw. Bauchschmerzen. Es ist wichtig, dass Eltern diese Zeichen wahrnehmen und bezüglich Aktivitäten bewusst auf die Bremse treten.
Das Interview wurde schriftlich von Fabienne Pfammatter geführt.