An seine Ankunft in der Schweiz kann sich Kumar noch gut erinnern: Kalt sei es gewesen, und innerlich habe er sich leer und verloren gefühlt. Eine Kontaktadresse in Bern hatte er in der Tasche. Doch da war niemand.
So verbrachte er seine erste Nacht in der Schweiz auf einer Sitzbank im Berner Bahnhof. Am nächsten Morgen ging er zur Fremdenpolizei. Es war der Anfang eines langen und steinigen Weges der Integration in einem ihm gänzlich fremden Land.
Junge Männer im Visier
Kumar war 19 Jahre alt als seine Eltern entschieden, er müsse Sri Lanka verlassen. Es war Anfang 1983, die Zeit der Studentenunruhen in Jaffna. Junge Männer wie Kumar, Gymnasiast und angehender Student der Rechtswissenschaften, gerieten in den Fokus der Behörden. Sie galten als besonders verdächtig, die tamilischen Separatisten zu unterstützen.
Kumar drohte Inhaftierung oder der Untergrund. «Im Nachhinein bin ich meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie alles darangesetzt haben, dass ich gehe.»
Viele seiner damaligen Kollegen seien tot. Und er ist sich sicher: «Wäre ich geblieben, würde ich nicht mehr leben».
Flucht in die Schweiz
Die Mutter habe ihren Schmuck verkauft, sich Geld von Nachbarn und Freunden geliehen und ihm umgerechnet rund 2000 Schweizer Franken mit auf die Reise gegeben. «Für unsere Verhältnisse damals war das sehr viel Geld», meint Kumar.
Zwei Monate mussten seine Eltern dann auf den Bescheid warten, dass ihr Sohn noch am Leben ist. Fünfzehn Jahre sollte es dauern, bis sie einander wiedersehen.
Harte Anfangsjahre mit Bratwurst und Rösti
«Haben Sie Arbeit?» seien seine ersten Worte auf Deutsch gewesen, erzählt Kumar. Und sein erstes warmes Essen in der Schweiz: Bratwurst und Rösti. Die Wirtin in der provisorischen Flüchtlingsunterkunft habe es nur gut gemeint mit ihm. Doch er habe sich nach dem Essen schier übergeben. «Ich war den Leuten fremd und sie waren mir fremd.»
Nach sechs Monaten fand er Arbeit, hatte meist zwei Jobs aufs Mal und arbeitete dementsprechend Tag und Nacht. Er stieg vom Blechputzer zum Hilfsbäcker auf und begriff schnell: «In der Schweiz kommst du nur voran mit einem Papier.» Er machte eine Servicelehre und arbeitete von früh bis spät im Gastgewerbe, bis es nicht mehr ging.
In der Schweiz kommst du nur voran mit einem Papier.
Kumar hatte inzwischen die Tamilin Hema geheiratet und hatte mit ihr zwei Kinder. «Dass ich Hema im Flüchtlingsheim traf, war mein grösstes Glück. Sie gab mir die Kraft und den Mut, mein Leben zu ändern.»
Das Schweizer Essen, das ununterbrochene Arbeiten und das Schicksal, dass er und seine Frau zu verarbeiten hatten, setzten dem Tamilen zu.
Wie eine Art Geistesblitz sei ihm da gekommen: «Du musst zurück zu den Wurzeln und daraus ein Geschäft machen. Was meine Mutter für uns gekocht hat, ist auch gut für die Schweizer!»
Er bildete sich zum Ayurveda-Therapeuten aus, gründete gemeinsam mit seiner Frau in Bern ein vegetarisches Restaurant mitsamt ayurvedischem Massagezentrum und kam damit zu Erfolg. «Wir arbeiten immer noch viel. Aber ab und zu machen wir jetzt auch Ferien», bilanziert der mittlerweile 55-Jährige.
Viele tamilische Kollegen sind nicht integriert
«Tamilen sind grundsätzlich sehr zurückhaltende und ängstliche Menschen», sagt Kumar. Das mag aus seiner Sicht mit einer der Gründe sein, weshalb viele seiner einstigen Kollegen der ersten Tamilen-Generation in der Schweiz nicht angekommen seien.
Sie lebten abgeschottet von der Umwelt, manche von ihnen kämpften mit finanziellen Problemen und Depressionen und oft sei Alkohol mit im Spiel. «Sie trauern dem Alten, dem Verlorenen nach. Ich sage immer: Kein Mensch wünscht sich die Flucht. Ich danke Gott, dass ich die Kraft hatte, dass es heute gut geht.»
Von den gefürchteten Fremden zu den Vorzeigeflüchtlingen
Rund 50'000 Tamilen leben heute in der Schweiz. Das ist eine der weltweit grössten Tamilen-Diasporagemeinschaften.
Als Anfang der 80er Jahre aufgrund des Bürgerkrieges in Sri Lanka die ersten Tamilen in die Schweiz kamen, erregten sie schnell Aufsehen:
Dunkelhäutige Gestalten in den Bahnhöfen, meist in Gruppen herumstehend und in schicke Lederjacken gekleidet, empörten und erschreckten die Schweizer Bevölkerung.
Die Öffentlichkeit zimmerte sich schnell ein Vorurteil daraus: Die Tamilen kontrollieren den Heroinhandel, arbeiten nicht und haben trotzdem genügend Geld, um sich teure Kleider zu kaufen.
Mit der Wirklichkeit hatte das nichts zu tun.
Das mit den Lederjacken ärgert mich bis heute.
Kumar Satkunam, der damals zu diesen Tamilen gehörte, meint rückblickend dazu: «Im Bahnhof war es immer warm, deshalb trafen wir uns dort. Solange man nicht ein paar Brocken Deutsch konnte, fand man auch keine Arbeit. Und das mit den Lederjacken ärgert mich bis heute. Wir erhielten diese Jacken gratis vom Roten Kreuz. Nur interessierte die Wahrheit niemanden.»
Unersetzliche Arbeitskräfte im Gastgewerbe
Schon bald erarbeiteten sich die Tamilen aber buchstäblich einen guten Ruf. Sie wurden vor allem im Gastgewerbe als unersetzliche Arbeitskräfte geschätzt, die stets höflich, fleissig und zurückhaltend ihren Job machten.
Strukturell schien die Integration der Tamilen geglückt. Eine Studie des Bundesamtes für Migration (SEM) aus dem Jahr 2007 zeigt allerdings auf, dass diese vor allem im gesellschaftlich-kulturellen Bereich begrenzt ist.
Die Tamilen der ersten Generation bleiben unter sich. Hinzu kommen ökonomische Schwierigkeiten. Zwar sei die Erwerbsquote unter den Tamilen der ersten Generation im Allgemeinen hoch, doch arbeite der Grossteil dieser Menschen in Bereichen, in denen kaum Qualifikationen erforderlich sind und die Löhne dementsprechend tief.
Der Tamile Kumar Satkunam kennt aus seinem persönlichen Umfeld einige solcher Beispiele: «Ich habe viele Kollegen, die sind noch immer auf dem untersten Niveau und müssen mit 3500 Schweizer Franken eine Familie ernähren.»
Die Hoffnung liegt – so heisst es auch in der Studie – auf der zweiten Generation: Der soziale Aufstieg und die kulturelle Integration soll wenigstens den Kindern gelingen, auch wenn Konflikte mit der Elterngeneration in gewissen Bereichen unvermeidlich sind.
Kumar Satkunam meint dazu: «Meine Mutter hätte mir nie erlaubt, eine Schweizerin zu heiraten. Für meine Kinder soll dieser Weg offen sein.»