«Die Böen waren so stark, sie haben uns umgehauen, wir konnten nicht mehr stehen», erinnert sich Tommaso Piccioli. «Der Atem erzeugte Eisbärte – man konnte sie abbrechen, es war wie in einem Zombie-Film», so Luciano Cattori. «Und ja, irgendwann kam der Gedanke, sind jetzt alle tot?», blickt Julia Hruska zurück.
Eines der grössten Unglücke in den Alpen
Am 29. April 2018 sterben sieben Skitourengänger aus einer Gruppe von zehn Leuten auf der Haute Route, der legendären Skitour zwischen Chamonix und Zermatt. Sie sterben vor Erschöpfung und unterkühlt, nur gerade 550 Meter von der rettenden Hütte, der Cabane des Vignettes, entfernt.
Julia Hruska, Tommaso Piccioli und Luciano Cattori haben als einzige der Gruppe überlebt. Es ist eines der grössten Bergunglücke in den Schweizer Alpen dieser Art. Was ist passiert? Wie ist das möglich, in einer Zeit von GPS, Hightech-Ausrüstung, Rettungsmöglichkeiten durch Helikopter und gut ausgebildeten Bergrettern?
Eine Spurensuche
Die Staatsanwaltschaft in Sitten eröffnet nach dem Unglück eine Strafuntersuchung. Aufgrund der Ergebnisse dieser Untersuchung sowie den Aussagen der Überlebenden und Beteiligten lässt sich genau rekonstruieren, wie es zu diesem Unglück gekommen ist.
Wie sich später herausstellt, ist das Drama eine Mischung zwischen Fehlentscheidungen des Bergführers und einer Verkettung unglücklicher Umstände.
Die Gruppe ist zu gross
Mario Castiglioni ist als einziger Bergführer für neun Personen verantwortlich. Damit ist die Gruppe zu gross, das ist für alle drei Überlebenden klar. Der Bergführer verlässt sich auf die Unterstützung seiner Frau Kalina, die auch dabei ist. Sie ist eine gut ausgebildete Wander- und Tourenleiterin aus Bulgarien, doch keine Bergführerin. Normalerweise sind zwei Bergführer für eine solch grosse Gruppe verantwortlich.
Der Sturm ist vorausgesagt
Bereits Tage vorher ist die Schlechtwetterfront prognostiziert. Eine typische Föhnlage.
«Es war nicht einfach schlechtes Wetter vorausgesagt – es war ein Sturm, in dem es um Leben und Tod gehen würde.» Dies die Aussage des amerikanischen Spitzenbergsteigers Steve House, der am Vortag in der Cabane des Dix das Wetter auf dem iPad kontrolliert hat.
Auch er ist zeitgleich wie Mario Castiglioni mit zwei Gästen auf der Haute Route unterwegs. Im Gegensatz zu ihm trifft er gezielte Vorkehrungen für den Sturm. Er steigt am Vortag zum höchsten Punkt der Tour, der Pigne d’Arolla auf und legt einen GPS-Track für den Teil, den er noch nicht kennt.
Zudem schliesst er sich mit einem befreundeten Bergführer zusammen, der den zweiten Teil der Tour zur Cabane des Vignettes zwei Wochen vorher bereits begangen und die GPS-Tracks gespeichert hatte.
Mario Castiglioni hingegen trifft keinen Entscheid und lässt seine Gäste im Ungewissen darüber, was er zu tun gedenkt: In der Hütte bleiben, umdrehen oder die Tour wie geplant weiterführen. «Natürlich wollten alle von der Gruppe die Haute Route in Zermatt beenden», so Luciano Cattori. Mario zieht am nächsten Tag mit der Gruppe weiter. Er informiert sie jedoch bis zum Schluss nie darüber, was er vorhat.
Die Schlechtwetterfront bricht früher herein
Statt wie prognostiziert um 14 Uhr, trifft die Schlechtwetterfront am 29. April 2018 bereits um 10 Uhr herein. Meteo Schweiz hatte eine typische Föhnlage vorausgesagt, in der es vor dem Schlechtwetter vor 14 Uhr ein kurzes Wetterfenster gibt. Vorausgesagt sind Schneefall und Sturmböen von über 100 Kilometern pro Stunde.
Zudem soll die Nullgradgrenze von 3000 Metern auf 2000 Metern sinken. Mario Castiglioni hat wohl darauf spekuliert, dass die Front tatsächlich erst um 14 Uhr hereinbricht und er bis dahin in der rettenden Hütte eintrifft. Denn er zieht trotz des sichtbar aufkommenden Sturms in die Front hinein und verpasst eine Umkehr, als es noch möglich gewesen wäre.
Nicht funktionierende Ausrüstung
Castiglioni ist, wie aus dem Untersuchungsbericht hervorgeht, mit einem GPS sowie einem Satellitentelefon ausgerüstet. Zudem hat er ein Handy dabei, auf dem er die Karte gespeichert hat.
Er und alle Mitglieder seien genügend ausgerüstet gewesen, so die Untersuchung. Jedoch nur unter guten Bedingungen, wie sich später herausstellt. Sowohl Handy wie GPS funktionieren nicht. Warum nicht, ist bis heute nicht geklärt.
Was der Bergführer anscheinend nicht dabei hat, sind Ersatzbatterien oder ein Gerät, mit dem er ein Notsignal hätte absetzen können. Zudem ist die Verbindung auf der Route der Pigne d’Arolla sehr schlecht.
Zusammentreffen mit den Franzosen
Mitten im Sturm, herumirrend auf dem Gletscher, trifft die Gruppe von Mario Castiglioni auf zwei französische Ehepaare. Diese orientieren sich mit Kompass und Karte. Sie sind zwar sehr bergerfahren, haben aber im schlechten Wetter ebenfalls die Orientierung verloren.
In der Folge schliessen sie sich Castiglioni an, was bedeutet, dass er als Bergführer nun plötzlich für 13 Personen die Verantwortung trägt.
Herumirren und Kontrollverlust
Mario Castiglioni will die Kontrolle über die Gruppe behalten und sich auf seine Erfahrung verlassen. In einer ersten Phase nimmt er auch keine Hilfe von Tommaso Piccioli an, der ein funktionierendes GPS dabeihat, auf dem die Route gespeichert ist.
Die Gruppe irrt dadurch auf dem Gletscher des Col du Brenay über sechs Stunden im White Out, einem Wetterphänomen, bei dem die Umgebung in einem einzigen Weiss-Grau erscheint, umher. Auf einer Strecke, die normalerweise in 45 Minuten zu bewältigen ist.
Erst als der Bergführer realisiert, dass er die Orientierung definitiv verloren hat, greift er auf das GPS von Tommaso zurück. Er verliert damit einen wichtigen Teil seiner Kontrolle als Bergführer über die Gruppe.
Die irreführende Sommerroute
Tommaso Piccioli hat auf seinem Handy nur die Sommerroute gespeichert, die sich unwesentlich von der Winterroute unterscheidet.
Obwohl sie auf dem richtigen Weg sind, führen in den entscheidenden Momenten die Abweichungen dazu, dass sich die Gruppe definitiv im Sturm verirrt. Und das trotz markanten Wegmarken, wie den Steinmännchen, die das Nadelöhr, den Durchgang zur rettenden Cabane des Vignettes markieren.
Die Gruppe ist nicht auf der Hütte angemeldet
Nach über 12-stündigem Herumirren im Sturm ohne Pausen, Essen und Trinken bricht die Nacht herein.
Mario Castiglioni beschliesst, bei Böen von bis zu 150 Kilometern pro Stunde und Minustemperaturen im zweistelligen Bereich auf einer Kuppe zu biwakieren – nur gerade 550 Meter von der rettenden Hütte entfernt, die im White Out nicht zu sehen ist. «Ich sagte zu ihm, hier werden wir sterben», erinnert sich Luciano Cattori. Die Gruppe ist zu erschöpft, um weiterzugehen.
Mario Castiglioni hatte seine Gruppe nicht in der Cabane des Vignettes angemeldet. Der Hüttenwart weiss nicht, dass nur gerade 550 Meter entfernt zehn Personen um ihr Leben kämpfen.
Grösste Rettungsaktion in den Alpen
Gegen 06.30 Uhr legt sich der Sturm und die Wolken reissen auf. Inzwischen macht sich Steve House, Spitzenbergsteiger mit seiner Gruppe in der Cabane des Vignettes bereit, für die letzte Etappe ihrer Tour nach Zermatt. Auf dem Weg stossen sie auf Mario Castiglioni, der tot im Hang unter den Steinmännchen liegt.
Mario Castiglioni hat sich in der Nacht aufgerappelt und geschafft den Weg zur Hütte einzuschlagen, ist dann aber, vor Erschöpfung und Unterkühlung zusammengebrochen und gestorben.
Inzwischen hat der Hüttenwart die Einsatzzentrale der Air Glacier in Sion alarmiert. Die Bergretter starten mit der Information, dass eine Person in Schwierigkeit sei. Als sie am Unfallplatz ankommen, erkennen sie das Ausmass des Dramas. Zu dem Zeitpunkt sind die meisten Teilnehmer noch am Leben, zwar bewusstlos und unterkühlt, mit schweren Erfrierungen. Es folgt eine der grössten Rettungsaktion in den Alpen.
Teilweise sind sieben Helikopter im Einsatz, Air Glacier, Rega und Air Zermatt arbeiten unter Zeitdruck zusammen. 14 Menschen, werden in die Cabane des Vignettes gebracht, wo sie von den anwesenden Notärzten versorgt und in die Walliser Spitäler sowie Lausanne und Bern geflogen werden. Sechs von ihnen sterben im Spital.
Entscheid der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt. Hätte Mario Castiglioni überlebt, hätte sie aber aufgrund seiner Garantenstellung als Bergführer, bezüglich der Straftatbestände Körperverletzung und fahrlässige Tötung, ermitteln müssen.
Es konnten keine Verantwortlichkeiten von anderen Personen festgestellt werden.