Für Andrea von Aesch (50) waren diese Momente wie das Öffnen einer Tür in eine andere Welt. Eine Welt, in der sie das sein durfte, was sie immer schon war: eine Frau.
Schon als kleines Kind fühlte sich Andrea als Mädchen, obwohl sie unter dem Namen Andreas als Junge grossgezogen wurde. Heimlich zog Andreas die Kleider seiner Mutter an. Bis ihn eines Tages der Vater dabei erwischte und mit dem Kinderheim drohte.
Über 40 Jahre lang verdrängte sie dieses Geheimnis und litt darunter, sich niemandem anvertrauen zu können. Nicht einmal der eigenen Frau Nelly, trotz 25 Jahren Ehe.
Schätzungen zufolge leben an die 40'000 Transmenschen in der Schweiz. Davon haben aber längst nicht alle eine Hormontherapie, eine Namensänderung oder eine geschlechtsangleichende Operation hinter sich. Diesen Schritt haben hierzulande nur ein paar Tausende vollzogen.
Transmenschen fühlen sich nicht dem Geschlecht zugehörig, dem sie bei der Geburt zugeordnet wurden. Sie identifizieren sich entweder als das andere Geschlecht, als zwischen den Geschlechtern oder als ein bisschen von allem.
Transmenschen sind überzeugt: Was zur Identität zählt, ist die Seele. Nicht der Körper.
Nico Gaspari (43) ist ein Transmann. Er wurde bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet und spritzt sich seit 16 Jahren regelmässig Testosteron. Er trägt einen dichten Bart und hat eine tiefe Stimme.
Nico liess sich damals seine Brüste, die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernen. Heute arbeitet er als Pflegefachkraft in einem Altersheim. Von seiner Transidentität wussten seine Mitarbeiter lange nichts.
Er wollte dies am Arbeitsplatz nicht zum Thema machen. Rechtlich gesehen ist Nico Gaspari dazu nicht verpflichtet. Und rein äusserlich weist nichts darauf hin.
Transfrauen haben es oft schwerer. Caroline Schürch (55) ist in einem biologisch männlichen Körper geboren. Sie ist gross gewachsen, mit breiten Schultern und einer tiefen Stimme. Daran ändern auch die Hormone nichts, die sie seit ein paar Jahren einnimmt.
Vor zwei Jahren hatte sie ihre geschlechtsangleichende Operation. Früher war sie verheiratet und Vater dreier Kinder.
Mit der Transition – dem Übergang vom Leben in einem Geschlecht zu einem anderen – brach die Familie auseinander und Caroline verlor ihre Arbeit. Seither ist sie auf Stellensuche. Meistens scheitert es bereits beim ersten Vorstellungsgespräch, meint sie heute nüchtern.
Sie ist sich sicher: Es hat auch mit ihrer Transidentität zu tun.
Transexualität ist so alt wie die Menschheit selbst
Eine vom «Transgender Network Switzerland» (TGNS) durchgeführte Befragung aus dem Jahre 2012 zeigt Erschreckendes: Während der Transition verlieren viele ihre Arbeitsstelle. Die Suizidrate ist bei Transmenschen 40-mal höher als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.
Die Ursachen für Transsexualität bzw. Transidentität sind bislang wenig erforscht. Dabei ist sie vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Wissenschaftler ziehen sowohl genetische, hormonelle, physische, psychische als auch soziale Faktoren als Ursache in Betracht. Möglicherweise ist die Transidentität – wie so vieles in der Biologie – multifaktoriell bedingt.
Neuere Untersuchungen vermuten ein hormonelles Ungleichgewicht während der Embryonalentwicklung, also bereits im Mutterleib. Ausserdem haben Forscher ermittelt, dass in der vorgeburtlichen (pränatalen) Entwicklungsphase dieselben Sexualhormone die Ausbildung der Genitalien wie auch die Ausbildung und Funktion des Gehirns beeinflussen.
Demnach ist es wahrscheinlich, dass ein Kind bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt transsexuell bzw. transident ist.
Blickt man Simon und Renja Kägi (22) in die Augen, sieht man einen Bruder und eine Schwester, die sich sehr ähnlich sehen. Was kaum jemand vermutet: Die beiden wurden als eineiige Zwillingsschwestern geboren!
Noch heute kann sich Simon an den Ekel erinnern, den er damals als junges Mädchen vor sich selbst hatte: Vor den eigenen Brüsten, der Menstruation. In der Schule wurde Simon oft gehänselt, weil er seine Beine nicht rasieren wollte.
Noch heute sieht sich Simon als Einzelgänger. Doch er fühlt sich glücklich. Seine männliche Identität gibt ihm Kraft, Schutz und Selbstsicherheit. Ein letzter Schritt zur Vollkommenheit fehlt ihm noch: Simon will sich einer Penisaufbauoperation (Phalloplastik) unterziehen lassen.
Wahrscheinlich gibt es heute nicht wirklich mehr Transmenschen als noch vor zehn Jahren. Betroffene und Ärzte sind aber der Meinung, dass man heute in der Gesellschaft offener darüber redet. Ganz wichtig sei zudem auch, dass man gerade im Internet viele Informationen erhalten könne. So könne man heutzutage die eigenen Gefühle und die erlebte Ablehnung des zugeteilten Geschlechts besser einordnen und psychologische Unterstützung einholen.
Etwa jeder fünfte Transmensch identifiziert sich zudem nicht eindeutig als Frau oder als Mann. Solche Transmenschen nennen sich «nonbinär» oder «non-binary».
Chri Hübscher (49) fühlt sich weder als Mann noch als Frau. Chri fühlt sich als Mensch. Chri möchte sich auch kein weibliches oder männliches Pronomen geben, sich nicht festlegen oder eingrenzen.
Nonbinär ist für Chri auch keine Identität, sondern eine Definition. Letztlich sei Identität immer einengend, meint Chri überzeugt.
Transmenschen irritieren. Auch heute noch. Indem sie unser starres Rollenbild von Mann und Frau hinterfragen, rütteln sie auch an den Säulen unserer eigenen Identität.
Sind wir wirklich der «Mann» oder die «Frau», für die wir uns halten? Steckt nicht in uns allen jeweils auch ein Anteil des anderen Geschlechts, den wir unterdrücken? Wie sehr sind wir Gefangene einer streng dichotomen Geschlechterrollenzuordnung, in die wir seit unserem Kindesalter hinein sozialisiert werden? Gibt es eine Identität jenseits des binären Systems?