Kiri, Donald, Erika und Fränzi sind berufstätig. Trotzdem leben sie mit Schulden, und sie sind keine Ausnahme. Praktisch jede siebte Person in der Schweiz lebt in einem Haushalt mit Zahlungsrückstand.
Die meisten Betreibungen werden wegen Krankenkassenprämien eingeleitet, die höchsten Beträge machen Steuerschulden aus. Betroffen sind vor allem Menschen mit einem Einkommen von unter 6000 Franken.
Kiri E. ist 24-jährig und seit ihrer Volljährigkeit überschuldet. Immer wieder befindet sich die Fachfrau Kundendialog in Lohnpfändungen.
Das heisst, ihr wird nur das Existenzminimum ausbezahlt. Mit dem Rest begleicht das Betreibungsamt offene Rechnungen.
Im Moment hat Kiri 10'000 Franken Schulden. Doch mit ihrem bescheidenen Teilzeitlohn ist eine Schuldentilgung fast nicht möglich. Einen besseren Job zu finden, ist aufgrund ihres Betreibungsauszugs schwierig.
Irgendwann war ich an einem Punkt, wo ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte.
Selbst wenn sie ihre Schulden zurückzuzahlen versucht, kommen laufend neue Betreibungen und Pfändungen hinzu, denn das Schweizer Schuldbetreibungs- und Konkursrecht (SchKG) hat eine entscheidende Lücke.
Krankenkassenprämien werden nämlich nur dann ins Existenzminimum einberechnet, wenn die Schuldner regelmässig belegen, dass sie die Krankenkassenprämien auch wirklich bezahlt haben.
Das gelingt Menschen mit Zahlungsschwierigkeiten oft nicht. Dazu kommt: Steuerforderungen werden im Existenzminimum gar nicht einberechnet.
Darum summieren sich diese beiden Beträge mit Zins- und Zinseszinsen laufend auf.
Pilotversuch der Betreibungsämter Zürich
Um verschuldeten Menschen aus dieser Abwärtsspirale zu helfen, haben die Betreibungsämter der Stadt Zürich in einem Pilotversuch die laufenden Krankenkassenprämien von Schuldnern in Lohnpfändung bezahlt.
Mit Erfolg, sagt Yves de Mestral, Präsident der Zürcher Betreibungsämter: «Wir haben allein im Jahr 2021 0.8 Millionen Franken Prämien direkt überweisen können, das sind rund 2400 Monatsprämien, also etwa 1500 bis 2000 Betreibungen, die weggefallen sind, also bei denen wir nicht betreiben mussten.»
Dadurch würden auch Betreibungsgebühren und Verzugszinsen wegfallen, was total nochmals zwischen 375'000 und 500'000 Franken ausmache, mit denen der Staat entlastet werden konnte. Und das allein in zwei Betreibungsämtern der Stadt Zürich, so de Mestral weiter.
Der Pilot wurde nun bei der Revision ins Krankenversicherungsgesetz (KVG) übernommen. Künftig haben Schuldner die Möglichkeit, die Betreibungsämter zu ermächtigen, ihre laufenden Krankenkassenbeiträge direkt aus der Lohnpfändung zu begleichen.
«Wir gehen davon aus, dass wir bis zu 20 Prozent dieser Betreibungen so erledigen könnten», sagt Yves de Mestral.
Krankenkassenschulden von den Eltern geerbt
Erika Müller ist heute 35-jährig und hat bereits im Alter von 18 Jahren Krankenkassenschulden von ihren Eltern «geerbt». Krankenkassenprämien also, die ihre Eltern für sie nicht bezahlt hatten, solange sie noch nicht volljährig war.
Solche «vererbten» Krankenkassenschulden haben viele Jugendliche aus tieferen sozialen Schichten mit Erreichen der Volljährigkeit in die Überschuldung getrieben. Mit der Revision des KVG gehen heute alte Krankenkassenschulden nicht mehr an die Kinder über.
Kleinkredite, um die Schulden zu tilgen
Bei Erika Müller kam noch ein Schaden am Auto eines Kollegen hinzu. Weil sie ihre Versicherung zu spät bezahlt hatte, musste sie den Schaden selbst tragen. Ende 20 war sie bereits mit 50'000 Franken verschuldet und geriet in eine schwere Depression. 75 Prozent ihrer Schulden machten mittlerweile Steuerschulden aus.
Es war eine Spirale, die sich ständig abwärts drehte.
Um die Schulden zurückzuzahlen, nahm sie noch einen Kleinkredit auf. Erst bei der Schuldenberatung stellte sich heraus, dass die Vergabe dieses Kredites gegen das Konsumkreditgesetz verstossen hatte und darum nicht vollumfänglich zurückbezahlt werden musste.
Junge Menschen klären oft nicht genau ab, was sie unterschreiben. Bei Kreditverträgen rächt sich das brutal. Aus Konsumkredit- oder Kreditkartenverträgen sind in der Schweiz total etwa 7.7 Milliarden Franken ausstehend. Fünf Prozent der Haushalte sind mit solchen Rückzahlungen im Verzug.
Franziska Neuhaus verschuldete sich, als sie mit 17 Jahren von zu Hause auszog. Der Auszug sei die grösste Schuldenfalle für Junge, sagt Yves de Mestral: «Man kann den sprunghaften Anstieg in den Statistiken nachweisen. Bis 17 sind das ein paar Dutzend Betreibungen, bei den 18- bis 25-Jährigen nehmen die Betreibungen mindestens um den Faktor 70 zu.»
Die Last von Steuern und Krankenkasse
Bei der heute 39-jährigen Kundenberaterin Franziska Neuhaus dauerte es fast 20 Jahre, bis sie wieder schuldenfrei war. Obwohl sie nie Verlustscheine hatte und überall Rückzahlungsvereinbarungen abschliessen konnte, wurden ihr auch Steuern und Krankenkassenbeiträge zum Verhängnis. Kam eine hohe Zahnarztrechnung hinzu, geriet sie mit den Rückzahlungen in Verzug. Auch sie nahm deswegen einen Kleinkredit auf.
Laut Yves de Mestral, dem Präsidenten der Zürcher Betreibungsämter, sind es vor allem Krankenkassenbeiträge und Steuern, die viele Leute in der Schweiz in die Verschuldung treiben.
Ratenzahlungen kommen für mich heute nicht mehr infrage.
Anders als in den meisten europäischen Ländern werden diese Beträge in der Schweiz nicht direkt vom Lohn abgezogen: «Alle Nachbarländer kennen den direkten Lohnabzug für Steuern und Krankenkassenprämien, und man muss sich schon die Frage stellen, ob es in der Schweiz nicht auch langsam an der Zeit wäre, neue Wege zu beschreiten.»
Diese Forderung politisch durchzusetzen ist jedoch schwierig in der Schweiz, wo man Eigenverantwortung hochhält. Ein parlamentarischer Vorstoss für einen direkten Steuerabzug vom Lohn scheiterte vor vier Jahren in Basel nur knapp, eine entsprechende neue Initiative wird gerade jetzt wieder diskutiert.
Hilfe für chronisch verschuldete Menschen
Eine weitere, grundlegende Änderung zur Verbesserung der Situation von überschuldeten Menschen wird jedoch langsam mehrheitsfähig: das sogenannte Restschuldbefreiungsverfahren. Ein Gesetzesentwurf liegt vor, das Vernehmlassungsverfahren ist gegenwärtig in der Auswertung.
Mit einer entsprechenden Änderung des Schweizer Schuldbetreibungs- und Konkursrecht (SchKG) könnten chronisch verschuldete Menschen von ihrer Restschuld befreit werden, sofern sie keine neuen Schulden machen und bereit sind, über mindestens drei Jahre regelmässige Rückzahlungen zu leisten.
Sie sollen, nach dem Vorbild der USA und wie in den meisten anderen Länder auch, eine zweite Chance bekommen, um wieder am Wirtschaftskreislauf teilzunehmen.
Donald Niebaum würde sich für ein solches Restschuldverfahren gut eignen. Der 37-jährige Maler und Familienvater geriet ebenfalls sehr früh in die Schulden. Mittlerweile belaufen sich seine Verlustscheine auf 88'000 Franken.
Auch wenn er nun mithilfe der Schuldenberatung mit Rückzahlungen begonnen hat: Mit seinem Einkommen von durchschnittlich 5000 Franken im Monat würde er etwa 20 Jahre brauchen, um seine Schulden zurückzuzahlen.
Uneinigkeit zwischen Kantonen und Kreditunternehmen
Eine private Schuldensanierung ist praktisch unmöglich, und damit ist Niebaum kein Einzelfall: Die ausstehenden Beträge aus Verlustscheinen betragen in der Schweiz mindestens 20 Milliarden Franken, nur etwa 17 Prozent dieser Gelder können effektiv zurückbezahlt werden.
Das heisst, der Grossteil der Schulden kann gar nicht mehr eingetrieben werden. Trotzdem wehren sich Kreditunternehmen und Inkassobüros in der Vernehmlassung gegen die Gesetzesänderung.
Man organisiert sich, aber im Alltag ist es eine ständige Belastung.
Die Kantone hingegen, wegen der Steuerschulden eigentlich die grössten Gläubiger, sprechen sich klar für ein Restschuldbefreiungsverfahren aus, weil damit staatliche Verfahrens- und Verwaltungskosten massiv gesenkt werden könnten.
Dahinter stehen auch die Betreibungsämter und Schuldenberatungen. In diesen Kreisen ist man überzeugt, dass dieses Verfahren für Betroffene, Behörden und die Wirtschaft vor allem Vorteile hätte.
Der Teufel liegt aber wie oft im Detail: Der vorliegende Entwurf definiert noch zu wenig präzis, wer in den Genuss eines Restschuldbefreiungsverfahrens kommen könnte. Zuwenig klar ist ausserdem, wie und von wem das Wohlverhalten der Schuldner genau gemessen werden soll.