Schongau steht exemplarisch für die vielen Dörfer, die unter Druck geraten sind und nur eine Wahl hatten: die Fusion oder Wachstum. Nachdem die Schongauer Einwohner die Abstimmung zur Fusion mit Hitzkirch und 9 anderen Gemeinden abgelehnt hatten, entschloss sich die Gemeinde eine Bauoffensive zu starten.
Die Mühle muss weichen
Die Schongauer waren in der glücklichen Lage, das geerbte Grundstück, worauf während 900 Jahren eine Steinmühle das Korn der Schongauer gemahlen hatte, als günstiges Bauland zu veräussern. Das Ziel war mit möglichst wenig Bauvorschriften, viele junge Familien ins Dorf zu holen. So stieg die Bevölkerung innert sieben Jahren von knapp 750 auf über 1’000 Einwohner. Der Plan ging vorerst auf, die Schule musste nicht geschlossen werden.
Von der Mülihalde zur Musterhalde
Das Neubauquartier bietet ein typisches Bild der Zersiedelung, wie es vielerorts anzutreffen ist: Moderner Flachdachbau, reiht sich neben Modell- Landhaus. Es gibt Häuser mit Holzfassaden, unverputztem Beton und Fertighäuser. Der Architekt Werner Jäggi, der sich auch im Vorstand der Stiftung Archicultura für den Erhalt schützenswerter Bauten einsetzt, beanstandet nicht das Bauvorhaben als solches. Ihn stört, dass die Gemeinde nicht den Mut hatte, mit einem Gestaltungsplan, ein neues Quartier mit eigenständigem Charakter zu entwickeln.
Natürlich war die Entstehung der Mülihalde ein Riesenthema in Schongau. Doch viele Schongauer, die sich darüber Gedanken gemacht haben, erwogen nur zwei Möglichkeiten: Entweder freies Bauen oder ein Gestaltungsplan, der eine einheitliche Siedlung zur Folge gehabt hätte. Die meisten Schongauer, so auch Gemeinderat Fredy Stutz, der für das Ressort Bau- und Raumplanung zuständig ist, verteidigen daher den Verzicht auf einen Gestaltungsplan.
Doch was bedeutet der starke Zuwachs für die Gemeinschaft in einem Dorf, wo sich bisher alle mit Namen kannten? Wollen die Neuen nur ihre Ruhe, oder engagieren sie sich auch in Vereinen, die vom Aussterben bedroht sind?
Neu sind zum Beispiel Caroline Scheidegger und ihr Partner Andres Rüegg. Während er die Ruhe im Garten geniesst, will sie Kontakte knüpfen und übernimmt im Dorftheater ihre erste Rolle. Sie muss eine hochnäsige Fabrikantengattin spielen, die sich mit einer Bäuerin streitet.
Ein Neuzuzüger wird Gemeindepräsident
Während die Theatergruppe auf der Bühne ihren Dorfstreit probt, eskaliert im wahren Leben ein echter Streit um die Gemeinderatswahlen. Dieser wird aber weniger lautstark ausgetragen als im Theater. Vielmehr kursieren Gerüchte hinter vorgehaltener Hand, Nachbarn sprechen nicht mehr miteinander und lassen ihre Kinder nicht mehr zusammenspielen.
Dass schliesslich mit Thierry Kramis, ein Neuzuzüger Gemeindepräsident wird, damit hat niemand gerechnet, am wenigsten er selber.
Mit Thierry Kramis, der ein eigenes IT-Unternehmen führt, hält das digitale Zeitalter Einzug in Schongau. Wenn es auch dank den neuen Einwohnern nicht schlecht um die Finanzen steht, denkt er bereits an die Zukunft und die heisst für ihn: Effizienz. Das bedeutet Abschied nehmen vom analogen Schalter auf der Gemeindeverwaltung, hin zum Online-Selfservice Desk:
Nur kein Schlafdorf von Pendlern werden
Familie Riedweg bewirtschaftet in dritter Generation eines der schönen alten für die Region typischen Bauernhäuser. Alois Riedweg hat als einer der Pioniere, mit dem Biolandbau begonnen. Damals wurden Biobauern noch belächelt. Heute floriert der Betrieb, vor allem auch dank den Neuen, die sich über den naturnahen Anbau und das hochwertige Angebot im Hofladen freuen.
Sein Sohn Beat Riedweg setzt sich für den Erhalt des traditionellen Seilziehclubs ein. Doch die neuen Kinder im Dorf spielen lieber Fussball, als Seilziehen. Dennoch wehren sich die Riedwegs nicht gegen Veränderungen. Wichtiger ist ihnen, die Identität zu bewahren.
Auffällig ist, dass vor allem auch Neue die Traditionen schützen wollen. Viele nehmen am Dorfleben teil. Der Winterthurer Christian Nüssli macht bei der Feuerwehr mit und hat Freunde gefunden im Bike-Club. Seine Frau Nicole Hüsser fühlt sich zwar nicht so heimisch wie in ihrer Aargauer Heimat, in der Schulkommission engagiert sie sich trotzdem.
Natürlich pendeln viele der Neuzuzüger zu ihren Arbeitsplätzen in den Zentren Muri, Lenzburg, Aarau oder Luzern. Doch zu einem Schlafdorf soll Schongau trotzdem nicht verkommen.