«Papa, wen soll ich wählen?», fragt Olga aus St.Petersburg am Telefon ihren Vater in der Stadt Kursk. «Egal wem du deine Stimme gibst – am Schluss wird eh Putin gewinnen.» Das Gespräch ist mir noch in guter Erinnerung – obwohl es bereit vor 18 Jahren stattfand. Ich lebte im März 2000 in St.Petersburg. Olga war die Hausherrin der Wohnung, in der ich ein Zimmer hatte. Putin war damals vom abtretenden Jelzin und seiner politischen Familie bereits vor den Wahlen als Präsident auserkoren worden. Mit knapp 53 Prozent im ersten Wahlgang fiel das Resultat damals knapper aus als in allen folgenden Wahlen.
Seither haben alle Präsidentschaftswahlen, auch diejenige mit Sieger Dmitri Medwedew im Jahr 2008, eines gemeinsam: der Sieger war jeweils vor den Wahlen schon klar. Es sind keine Wahlen im demokratischen Sinne, sagt der russische Soziologe Lew Gudkow. Die Wahlen seien eher eine Art Zeremonie, eine Demonstration der Loyalität mit der Macht. Eine Akklamation oder ein Plebiszit, wie man es auch immer nennen wolle. Aber es seien keine Wahlen.
Schmutzkampagnen und willfährige Justiz
Der Amtsinhaber dominiert auf allen vom Kreml gesteuerten Fernsehkanälen. Gegen Gegner werden Schmutzkampagnen gefahren. Und wenn es doch Kandidaten mit einem grösseren Mobilisierungspotenzial gibt, wie dieses Jahr der Jurist und Blogger Alexej Nawalny, dann verfügt der Kreml über eine willfährige Justiz, die solche Kandidaten von der Wahl ausschliesst.
Heute steht Wladimir Putin praktisch alleine auf der politischen Bühne. Das Zwei-Kammer-Parlament hat im Volksmund den Namen: «tollwütiger Printer» – weil es kritiklos die Gesetzesentwürfe der Präsidenten-Administration absegnet. Dort ist auch das wahre Machtzentrum des Landes.
Im Parlament selber mögen zwar Anhänger der sogenannten «System-Opposition» sitzen. Die Kommunisten zum Beispiel. Diese können schon mal heftig über die Regierung wettern. Sie beschimpfen Premierminister Medwedew oder andere Minister, aber es ist bei ihnen weder der Wunsch an fundamentaler Opposition zu spüren noch das Bedürfnis, selber an die Macht zu gelangen, um die Geschicke des Landes zu leiten.
Alexej Nawalny ist derzeit der einzig echte Politiker, den Russland hat.
Die nicht-systemische Opposition ihrerseits steht heute sehr geschwächt da. Mit ihr sind diejenigen Kräfte gemeint, die sich nicht an der russischen Schein-Demokratie beteiligen. Sie versuchen, ihre Forderungen mit Protesten auf der Strasse durchzusetzen. Allen voran die Bewegung um Alexej Nawalny, dem, wie Soziologe Gudkow sagt, talentierten und eigentlich einzig echten Politiker, den Russland derzeit hat.
Sie verlangen Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte und dass das Volk wieder eine echte Wahl hat. Dass Politiker vom Volk abgewählt werden können und so unter Druck stehen, ihre Beamten zu echter Arbeit am Dienst des Volkes anzutreiben. Erst dann könnten Bürokratie und Korruption endlich den Garaus gemacht werden.
Die demokratische und eher pro-westliche Opposition, in Russland unter dem Begriff «Liberaly» zusammengefasst, hat aber in den letzten Jahren harte Schläge einstecken müssen – teils im wahrsten Sinne des Wortes. Sie waren vereinzelt Opfer von gezielten Verhaftungen und jahrelangen Gefängnisstrafen, einer ganzen Reihe neuer repressiver Gesetze und Diffamierungskampagnen in den staatlichen Fernsehsendern.
Demoralisiert ...
Damit hat es der Kreml geschafft, diese Bewegung zu demoralisieren. Die Tatsache, dass Putin mit Alexej Nawalny seinen vielversprechendsten Konkurrenten vom Wahlkampf ausschliessen liess, wird von einem grossen Teil der Bevölkerung emotionslos zur Kenntnis genommen. Viele mögen sich ärgern oder sind enttäuscht, aber sie gaben sich nicht die Mühe, bei den landesweiten Protestkundgebungen Nawalnys auf die Strasse zu gehen.
... und gleichgültig
Der Grund dafür ist viel weniger in der Angst zu suchen, sondern in der Gleichgültigkeit und dem verlorenen Glauben, dass man mit Protesten etwas ändern könne, oder dass neue Kräfte besser wären. Noch im Jahre 2012 hatte die Opposition, nach der umstrittenen Job-Rochade zwischen Putin und Medwedew, einen grossen Elan entwickelt. Aber die Anführer haben es nicht geschafft, diese Kräfte nachhaltig in eine starke politische Organisation oder wenigstens Bewegung zu wandeln. Auch aus eigenem Versagen und kleinlichen, internen Konflikten.
Putins ideales Timing
Kommt hinzu, dass es die russische Politik mit einem äusserst mächtigen Gegner zu tun hat. Zumindest gegen aussen hat Putin die ganze Machtelite und die Geheimdienste hinter sich und verfügt über viele Milliarden an Finanzmitteln. Es gibt wohl nur wenige Präsidenten in der Geschichte der Menschheit, die in einem so idealen Moment an die Macht gekommen waren wie Wladimir Putin.
Die Einkommen stiegen
Als er im Jahre 2000 das Zepter übernahm, hatte Russland eine harte Wirtschaftskrise und 10 Jahre teils chaotischer Reformen und Umwälzungen hinter sich. Dafür macht man bis heute die «Liberaly» verantwortlich. Putins Arbeitsbeginn wurde begleitet von einem starken Anstieg der Rohstoffpreise. Er brauchte diese Gelder nur zu verteilen. Dies führte wiederum zu einem wohl noch nie dagewesenen Konsum-Boom.
Die realen Einkommen der Russen stiegen ein Jahrzehnt lang um jährlich fünf bis zehn Prozent. Dabei schaffte es der Präsident, die verschiedenen Machtzentren und Gruppierungen, die alle am neuen Reichtum teilhaben wollten, unter Kontrolle zu halten. So wirkt das System, zumindest nach aussen, äusserst stabil.
Das Konzept der «russischen Welt»
Mit lockerem Zynismus kann Putin – wie an der grossen Jahres-Pressekonferenz im vergangenen Dezember behaupten – er hätte auch gerne eine stärkere Opposition. Aber es liege nicht an ihm, diese auszubilden.
Wenn es heute eine potentielle Opposition gibt, die Putin Sorgen bereiten könnte, dann sind es die nicht die demokratischen sondern die nationalistisch-imperialistischen Kräfte. Die Zehntausenden von freiwilligen Kämpfern, die in der Ostukraine oder in Syrien im Einsatz standen und das Konzept der «russischen Welt» propagieren.
Russland ist für sie dort, wo russisch gesprochen wird – also auch ausserhalb der eigenen Landesgrenzen. Sie machen es für den Präsidenten schwierig, sich dem Westen anzunähern und zum Beispiel in der Ukraine-Politik grosse Kompromisse einzugehen.
Gefahr droht nur von der Elite
Wie lange der russische Zar noch so sicher auf seinem Thron sitzt, weiss niemand. Dass er von einer nationalen Protestbewegung unter Druck gesetzt werden könnte, dafür gibt es kaum Anzeichen. Zwar häufen sich lokale soziale Proteste und Demonstrationen. Aber diese werden landesweit kaum wahrgenommen – vor allem auch, weil sie im vom Kreml kontrollierten Fernsehen nicht statt finden.
Gefahr droht dem Präsidenten, wenn es innerhalb der Elite zu nachhaltigen Konflikten kommen sollte. Insbesondere dann, wenn diese an die Öffentlichkeit getragen werden. Ob und wann das eintrifft, weiss niemand, aber laut dem Soziologen Gudkow könnte so ein Fall das Land in eine schwere Krise stürzen.