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SRF DOK Warum Tausende Bluter in den 80er Jahren an Aids starben

Medikamente, die Hämophilie-Kranken eigentlich helfen sollten, waren in den 80er Jahren HIV verseucht. Tausende erkrankten an Aids. Auch der Vater der deutschen Filmemacherin Julia Geiss starb an den Folgen der Immunschwächekrankheit. Inwieweit haben die Pharmafirmen dafür Verantwortung übernommen?

Zur Person

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Julia Geiss ist Kamerafrau und Fotografin. Sie stammt aus Kassel und studierte dort an der Kunsthochschule visuelle Kommunikation. «Schlafende Väter» ist ihr Abschlussfilm. Julia Geiss lebt heute in Berlin.

SRF DOK: Julia Geiss, dieser Film ist auch Ihre ganz persönliche Geschichte. Als Kind haben Sie Ihren Vater verloren.

Julia Geiss : Als mein Vater 1992 verstarb, hiess die offizielle Todesursache Leberversagen. Ausgesehen hat er Monate vorher schon wie der Tod – klapperdürr, graue Haut, eingehüllt in Morphium. Aids ist eine zerstörerische Krankheit. Kurz nach seinem Tod habe ich dann erfahren, dass er an Aids gestorben war, und wie er sich infiziert hatte. Das war natürlich schockierend und unglaublich. Ich habe dann aber erst Jahre später angefangen, mich intensiv damit auseinander zu setzen.

Ihr Vater war lange krank. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

Wir, also meine Schwestern und ich, wussten natürlich, dass er Bluter war, waren also an das allabendliche Ritual gewöhnt, in der er das weisse Pulver in der kleinen Glasflasche mit einer Flüssigkeit aufschüttelte. Ich erinnere mich an den Geruch des Desinfektionssprays, und wie er sich dann das Medikament injizierte. Im Nachhinein zu wissen, dass er sich über Jahre jeden Abend mit HIV infiziert hat, ist nach wie vor Wahnsinn. Da er von der Hepatitis C und B geschwächt war, womit er sich ebenfalls über das Medikament infizierte hatte, blieb ihm keine Chance das zu überleben.

Ein qualvoller und isolierter Tod

Es war der sogenannte «Bluterskandal». In den 80er Jahren steckten sich Hunderte von Menschen an, mehr als 1000 Männer starben – allein in Deutschland. Auch in der Schweiz wurde bei Hämophilen das HI-Virus nachgewiesen, viele von ihnen sind verstorben. Wie haben Sie reagiert, als Ihnen bewusst wurde, dass ihr Vater an einem Medikament gestorben ist, das ihm eigentlich helfen sollte?

Das ist natürlich das Absurde und das Unfassbare an der ganzen Geschichte. Denn dieses Medikament hat viele Bluter damals befähigt, ein besseres Leben zu führen. Sie hatten weniger Schmerzen, konnten nahezu ein «normales» Leben führen. Doch letztlich hat es den meisten einen qualvollen und isolierten Tod bereitet, da es nun mal Aids war, was damals – noch mehr als heute – eine stark stigmatisierte Krankheit war.

Zurück blieben Ehefrauen, Kinder wie Sie. Wie geht es Ihnen heute mit dieser Geschichte?

Diese Geschichte empfinde ich nach wie vor unglaublich, auch wenn das jetzt 25 Jahre zurück liegt. Heftig finde ich nach wie vor, wie damals mit der Krankheit Aids umgegangen wurde. Dass sich damals die infizierten Bluter auch noch verstecken mussten, im Verborgenen ihre Beerdigungen vorbereiteten und Vorsorge für ihre Familien trafen. Dass keiner wissen durfte, dass sie mit einem Virus infiziert wurden, dem leider nun mal etwas sündhaft Sexuelles anhaftet und der gesellschaftlich stark geächtet ist. Ich finde es wichtig, dass diese Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, weil sie zeigt, dass man generell Systeme hinterfragen sollte. Geschichten enden nicht, nur weil Leute gestorben sind und nicht mehr reden können, wovon die betroffenen Pharmafirmen aber sicherlich ausgegangen sind. Und dennoch geht das Leben weiter und das ist auch gut so.

«DOK» am Mittwoch

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Geld für ein Leben ohne Vater

Was haben Sie als Hinterbliebene von den involvierten Pharmafirmen erhalten?

Mein Vater hat damals von der Versicherung der Firma Baxter 165'000 D-Mark erhalten, da waren die Beerdigungskosten bereits enthalten. Es gab einen Vertrag mit der Versicherung, wonach diese Zahlung kein Eingeständnis der Schuld darstellen sollte. Ebenso mussten meine Eltern unterschreiben, dass meine Mutter und wir 3 Kinder nie mehr Geld nachfordern würden. Später wurde dann noch die Stiftung Humanitäre Hilfe ins Leben gerufen, die uns Kindern bis zum 25. Lebensjahr 800 D-Mark monatlich ausgezahlt hat.

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Wie ist diese Regelung für Sie?

Zufrieden wird man wohl nie sein, wenn man Geld bekommt für ein Leben ohne Vater. Zu diesem Geld hatte ich auch immer ein schwieriges Verhältnis. Einerseits war es eine Existenzgrundlage während des Studiums, andererseits beschlich mich auch ein Gefühl der Scham, was ich mir lange nicht erklären konnte. Später wurde mir dann klar: Weil ich es überhaupt angenommen hatte. Als eine Art Ablasshandel für ein Leben ohne Vater. Als die Zahlungen dann aufhörten, überkam mich ein überraschendes Gefühl der Erleichterung.

«Es war heilsam»

Die Krankheit Hämophilie kann an Töchter vererbt werden, die es wiederum an ihre Söhne weitergeben können. Wie sieht das in Ihrer Familie aus? Bei Ihnen selbst?

Meine Schwester hat zwei Söhne, der eine ist Bluter, der andere nicht. Für mich spielt das Thema noch keine Rolle.

War die Realisierung dieses Films schwierig für Sie?

Teilweise war der Dreh sehr emotional für mich, und manchmal habe ich für lange Zeit Sätze mit mir herumgetragen, die einer der Protagonisten gesagt hatte. Letztlich bin ich aber sehr froh, dass ich diesen Film als Abschlussarbeit der Kunsthochschule Kassel gemacht habe. Ich habe viele Menschen kennen gelernt, die sich ähnlich oder gleich gefühlt haben wie ich, für diese Erfahrungen bin ich sehr dankbar. Auf eine Art war dieser Film sehr heilsam.

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