Die USA drohten der UBS 2009 mit einer Anklage, weil diese Steuerumgehungsgeschäfte tolerierte. Bisher zeigte die Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang auf einen Mann, auf den UBS-Manager Raoul Weil.
Die Schlüsselfrage lautet: Wer wusste von den umstrittenen Steuertricks innerhalb der UBS? Bis 2014 schien klar: Raoul Weil, oberster Chef der UBS-Vermögensverwaltung «Private Banking International». Raoul Weil wurde deshalb in den USA angeklagt. Und im November 2014 freigesprochen. Im Gerichtsverfahren gab es keine Belege, die ihn belasteten.
Eine neue Sichtweise drängt sich auf
Ein bisher kaum beachtetes Dokument liefert eine neue Sichtweise. Es ist nicht irgendein Papier, es handelt sich um die Verfügung der Schweizer Bankenaufsicht EBK/Finma gegen die UBS. Sie ist datiert vom 21. Dezember 2008. Damals konzentrierte sich die Schweiz auf die US-Anklage gegen Raoul Weil; das Papier blieb damals weitgehend unbeachtet.
Doch der Reihe nach. Die UBS steht im Jahr 2008 im Fokus der amerikanischen Justiz. Der Vorwurf: Die Bank ermögliche US-Bürgern umstrittene Steuerumgehungsgeschäfte. Im April 2008 reist der oberste Manager der UBS-Abteilung «Americas International», Martin Liechti, routinemässig in die USA.
Wer ist Martin Liechti?
Die US-Justiz fackelt nicht lange und nimmt ihn fest. Liechti erklärt sich bereit, mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten. Er erhält Hausarrest und beginnt auszusagen. Er erhält im Gegenzug Straffreiheit.
Wer ist Martin Liechti? Der heute 58-jährige Banker spricht Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch. Er gilt als begabter Verkäufer, macht rasch Karriere in der UBS und wird im Jahr 2001 Chef des gesamten Amerika-Geschäfts der UBS.
Kollegen beschreiben ihn als begabt, ehrgeizig, leistungsorientiert und etwas arrogant. Seine Untergebenen treibe er an mit ambitiösen Zielen – nur so erhalte man Boni. Ein Punkt, der später zu den Auslösern des Steuerkonflikts gezählt wird.
Martin Liechti beschuldigt Raoul Weil
Für die umstrittenen Steuerumgehungsgeschäfte der UBS weist Martin Liechti jede Verantwortung von sich. Sein Chef, nämlich Raoul Weil, habe davon gewusst. Das Schlüsseldokument, das dies belege, sei ein interner UBS-Bericht vom 19. September 2002.
Darin heisst es, bei 247 Stiftungen verfüge die UBS nicht über die notwendige Dokumentation zu den Kundenbeziehungen. Liechti erklärt, Raoul Weil habe diesen Mangel zu verantworten – es gehe hier genau um jene Kunden, die Steuerbetrug begangen hätten.
Im November 2008 klagt die US-Justiz Raoul Weil an. Unter Punkt 28 der Anklageschrift findet sich dieser Vorwurf wieder.
In der Folge wird Raoul Weil verhaftet. Im Oktober 2014 beginnt sein Prozess vor einem amerikanischen Geschworenengericht. Drei Wochen später spricht ihn das Gericht vollumfänglich vom Vorwurf der Mithilfe am Steuerbetrug frei.
«Schlüsseldokument» spielt im Prozess keine Rolle
SRF analysierte für den «DOK»- Film minutiös die Gerichtsprotokolle. Eines fällt auf: Dieses angebliche «Schlüsseldokument», der interne UBS-Bericht vom 19. September 2002, spielte im Prozess keine Rolle. Die Staatsanwaltschaft verwendete das Papier zu keinem Zeitpunkt, obwohl es in den Gerichtsakten lag. Auch Martin Liechti, Kronzeuge der Anklage, sprach vor dem Geschworenengericht nie von diesem Papier.
Als SRF Martin Liechti auf seine Rolle beim Prozess und in der Bank anspricht, beruft er sich auf dieses Papier. Über seinen Anwalt lässt er mitteilen, der interne UBS-Bericht vom 19. September 2002 sei der Beweis, dass Raoul Weil von Steuertricks gewusst habe. Was steht in diesem Papier, das den Freispruch von Raoul Weil in Frage stellen soll?
SRF erhält Einsicht in das «Schlüsseldokument»
SRF hatte die Möglichkeit, es in der Kanzlei seines Rechtsanwalts einzusehen. Fazit: Im UBS-Dokument steht tatsächlich, es bestünden Mängel in den Kundendokumentationen. Es geht um offshore-Gesellschaften, die US-Wertschriften besassen, ein Umstand, der problematisch war. Die Gesellschaften konnten so für Steuertricks missbraucht werden.
Das QI-Agreement
Zum Hintergrund: Die UBS hatte damals wie viele andere Schweizer Banken mit den amerikanischen Steuerbehörden IRS ein Abkommen, das sogenannte QI-Agreement, unterzeichnet. Darin verpflichtet sich die Bank, gewisse Bedingungen einzuhalten.
Das fragliche Dokument behandelt diese Bedingungen. Es werden Fristen und Massnahmen genannt, bis wann die Mängel korrigiert werden müssen, damit die UBS sogenannt «QI-konform» wird. Und benannt werden auch verantwortliche Personen, unter anderem die Kundenberater, die Martin Liechti unterstellt waren.
Die Kontrolle liegt bei der obersten Führung, dem Exekutivkomitee der UBS. Kurz: Das Papier stellt eine Etappe dar im Bemühen der UBS, das QI-Agreement einzuhalten.
Wieder zurück zur EBK/Finma und ihrer Verfügung gegen die UBS vom 21. Dezember 2008. Ihre Untersuchung dreht sich genau um dieses Thema.
- Erste Frage: Hatte die UBS das Nötige unternommen, um dieses QI-Abkommen einzuhalten?
Die EBK/Finma verneint und verbietet der UBS deshalb das Offshore-Geschäft mit US-Kunden.
- Zweite Frage: Hatte die oberste Führung von Täuschungsmanövern gewusst?
Die Antwort: «Die EBK/Finma fand keine Anzeichen für ein Mitwissen der obersten Organe der Bank in Bezug auf Verletzungen der Verpflichtungen unter dem QI-Agreement.» Mit obersten Organen ist neben Marcel Ospel auch Raoul Weil gemeint. Die EBK/Finma kannte diesen internen UBS-Bericht vom 19. September 2002 – trotzdem kommt sie zu diesem Schluss.
Im EBK/Finma-Bericht vom 21. Dezember 2008, der damals unter dem Eindruck der Anklage gegen Raoul Weil weitgehend unbeachtet blieb, steht: «Die Untersuchung erbrachte keine Hinweise auf Straftaten nach Schweizer oder auch amerikanischem Recht durch Raoul Weil.» Es sei nicht nachvollziehbar, «weshalb es zur Anklageerhebung kam».
Die Bankenaufsicht hatte die gleichen Akten analysiert wie die US-Justiz: «In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass sich die Anklage im Wesentlichen auf zwei Aussagen stützt», schreibt die EBK/Finma weiter, nämlich auf diejenige des Whistleblowers Bradley Birkenfeld und diejenigen von Martin Liechti.
Und der Abschnitt endet mit dem Satz: Martin Liechti sei es, der «für die festgestellten Fälle von Non-Compliance eine grosse persönliche Führungsverantwortung» trage.
Noch deutlicher wird die EBK/FINMA in ihrem nicht-öffentlichen Bericht vom 17. Dezember 2008, den SRF von Martin Liechtis Anwalt erhalten hat. Darin heisst es auf S. 153 explizit: «Das direkt für die Umsetzung (des QI-Agreements) zuständige Management (...) sowie der Verantwortliche für den Geschäftsbereich «Americas International», Martin Liechti, haben es manifest an Willen mangeln lassen, bei wichtigen Kunden sämtliche Verpflichtungen der UBS AG aus dem QI-Agreement lückenlos durchzusetzen.»
Weiterer Bericht der EBK/FINMA belastet Martin Liechti
In ihrem Bericht vom 18. Februar 2009 wird die EBK/FINMA nochmals konkreter: Die Steuerumgehungsgeschäfte seien direkt von Martin Liechtis Abteilung «Americas International» zu verantworten.
Zitat: «Der Umstand, dass einzelne Kundenberater der Bank einzelnen Kunden bei ihren Anstrengungen zur Vermeidung von Steuern (...) behilflich waren, war gewissen Kundenberatern, den (wenigen) Managern des Nordamerika-Business und dessen direkten Vorgesetzten sowie einzelnen Fachspezialisten bekannt.» Auf die Frage von SRF, ob Martin Liechti unter diese Kategorie falle, antwortete sein Anwalt mit «Ja».
Fazit: Martin Liechti war laut Bankenaufsicht EBK/FINMA in der UBS-Hierarchie der Höchste, der um die umstrittenen Täuschungsmanöver innerhalb der Grossbank wusste. Wegen diesen Täuschungsmanövern gelang es den USA, das Schweizer Bankgeheimnis im Jahr 2009 zu knacken.