Ein grauer Morgen in Luzern. Die Kommissare Reto Flückiger und Liz Ritschard sind unterwegs zum Tatort. Sie klettern unter einer Polizeiabsperrung durch und betreten eine moderne Wohnung: Auf dem Küchenboden liegt eine junge Frau, ihre entfärbten Augen sind weit aufgerissen, ihr Gesicht blutverschmiert und verbrannt. Der verklebte Gasherd deutet darauf hin: Jemand hat den Kopf der Frau gewaltsam auf den Herd gedrückt. Es ist ein grausames Bild.
Diese Szene stammt aus der «Tatort»-Episode «Verfolgt». Kurt Graf kennt sie gut: Seit der ersten Luzerner Folge im Jahr 2011 berät er den Schweizer «Tatort» in Fachfragen, weil der Kriminaltechniker solche Szenen aus der Realität kennt. Elf Jahre lang war er stellvertretender Chef der Kriminalpolizei.
Mehr Morde als im «echten» Luzern
Seit nunmehr vier Jahren ist Graf das Bindeglied zwischen Polizei und Fernsehen. In diesem Zeitraum hatte Fernsehkommissar Flückiger mehr Tötungsdelikte zu bearbeiten als die echten Kommissare der Luzerner Kripo. Allein im letzten «Tatort» gab es drei Tote durch Fremdeinwirkung – so viele gab es in Luzern im gesamten Jahr 2014.
Doch die «Tatort»-Macher passen nicht nur die Fallzahlen dem Spannungsbedürfnis des Zuschauers an, denn die eigentliche Arbeit einer Mordkommission eignet sich nicht gerade als Quotenmacher. Graf erläutert: «Unsere Ermittlungen sehen ganz anders aus. Die meiste Zeit verbringen wir am Schreibtisch, Ausseneinsätze sind eher selten.» Wilde Verfolgungsjagden durch die ganze Stadt kommen so gut wie nie vor. Stattdessen besteht die Arbeit der Beamten vor allem aus dem Schreiben von Berichten. «Wir dokumentieren, zeichnen auf und legen Akten an», hält der «Tatort»-Berater fest. Besonders spannend klingt das nicht. Wer eine Geschichte fürs Fernsehen erzählen will, muss sich also zum Teil von der Realität entfernen. Kurt Graf ist dabei williger Helfer. Er selbst hat den «Tatort» schon früher gerne geschaut.
Ein «Tatort» muss nicht realistisch sein
Auch die Zweierteams, die in den meisten Städten ermitteln, entspringen der Phantasie der Drehbuchautoren. Ereignet sich in der Realität ein so genanntes schweres Verbrechen gegen Leib und Leben, werden die Ermittler-Teams jedes Mal neu zusammengesetzt. Sie bestehen aus 20, manchmal 30 Kriminalbeamten. Denn um ein unklares Tötungsdelikt aufzuklären, braucht es viel Personal: Alle Spuren werden gleichzeitig verfolgt, alle Einvernahmen protokolliert, jeder Ermittlungsschritt minutiös dokumentiert. Alleine bricht niemand auf, um mal eben einen Verdächtigen oder seine Ehefrau zu verhören.
Treten hingegen in einem Format wie dem «Tatort» zu viele Personen in zu vielen Parallelhandlungen auf, zerfleddert die Geschichte schnell. «Es erwartet aber auch niemand, dass ein Film die Dinge so zeigt, wie sie wirklich sind», sagt die Kulturanthropologin Christine Hämmerling von der Universität Zürich. Der Tatort wirke vor allem dann realistisch, wenn man als Zuschauer denkt: «So könnte es sein.» Wie «echt» die Polizeiarbeit ist, spielt dafür eine untergeordnete Rolle. Auch der «Tatort»-Berater Graf findet, dass die Krimi-Reihe nicht die echte Polizeiarbeit darstellen muss: «Sonst wäre es kein ‹Tatort›, sondern ein Dokumentarfilm.»
«Wir lassen uns durchaus von realen Geschehnissen inspirieren und suchen auch nach Themen, die für Diskussionsstoff sorgen», sagt Lilian Räber, die für den SRF-Tatort verantwortlich ist. «Aber der Tatort soll vor allem ein spannender Krimi sein, eine gut erzählte Geschichte.» Auch die Kulturanthropologin sagt: «Beim «Tatort» kommt es vor allem darauf an, dass sich der Zuschauer in realistische Geschichten und Umgebungen geführt fühlt.»
Der Berater hilft, wo er kann
Dafür sorgt Kurt Graf. Während der gesamten Produktion ist er telefonisch erreichbar – für die Ausstatter, Maskenbildner, Darsteller oder den Regisseur. Graf organisiert Räumlichkeiten, Requisiten und Polizei-Statisten.
Manchmal besteht seine Arbeit darin, den Ausstattern Zutritt zu den Polizeifluren zu verschaffen – damit sie sich von Kopiergeräten und Wanddekorationen inspirieren lassen können. Denn nur wenn die Umgebung stimmig ist, wirkt die Handlung glaubhaft. «Die Schauspieler wollen hingegen wissen, wie man in Häuser eintritt», erzählt der «Tatort»-Berater weiter: «Sie stellen Fragen wie: Wer geht voran? Wie bewegt man sich dabei?»
Wenn er nicht helfen kann, leitet er die Fernsehmacher an Kollegen weiter. Werden Szenen mit besonderem technischen Anspruch gedreht, schickt er Polizei-Experten zum Set. Sie zeigen der Crew zum Beispiel, wie die Arbeit an einem Tatort abläuft oder wie die Spurensicherung ihre speziellen Instrumente bedienen würde.
Und als ein Regisseur nach Inspiration für eine Geschichte im Rotlichtmilieu suchte, organisierte Graf ein Treffen mit seinen Kollegen von der Drogenfahndung. «Mein Kollege hat den Regisseur mitgenommen, damit er mal sieht, wie es in der Szene wirklich aussieht», erzählt der Berater: «So etwas ist sicher hilfreich, damit der ‹Tatort› realistisch wirkt.»
Ein Spektakel für die Quote
Doch letztlich unterliegt die Handlung des «Tatorts» nicht dem Fachwissen des Beraters, sondern der Kreativität der Autoren. Und den Vorgaben der Macher. Denn das Ziel der Krimi-Reihe ist es vor allem, massentauglich zu sein. Für die Quote – das beweist der viel kritisierte, aber auch viel gesehene Hamburg-«Tatort» mit Til Schweiger – sind Verfolgungsjagden geeigneter als Aktengelage oder nicht enden wollende Einvernahmen.
Der Luzerner Tatort «Verfolgt» wurde positiv aufgenommen. Seine Macher boten aber auch alles auf, was der Quote erfahrungsgemäss gut tut: einen toten Whistleblower, einen toten Täter, mehrere Verfolgungsjagden, Schusswechsel, polternde Kommissare, eine interne Ermittlung, korrupte Politiker, organisierte Kriminalität – und eine Steuer-CD.
Das alles mag nur wenig real klingen. Aber hätten Sie den Beamten lieber beim Akten wälzen zugeschaut? Eben.