«Espresso» startet zunächst unter anderem Namen: Nach dem Vorbild von Formaten der britischen Rundfunkanstalt BBC berichtet das Magazin «Index 5 vor 12» ab dem 8. Januar 1975 im Radio über den Schweizer Konsumalltag. Die Zielgruppe damals: in erster Linie Hausfrauen. Schon bald wird jedoch eine abendliche Wiederholung eingeführt, um auch Berufstätige zu erreichen. 1991 erfolgt die Umbenennung in «Espresso». Von Anfang an widmet sich das Radiomagazin auch Themen der Geschlechtergerechtigkeit, wie der folgende Fall zeigt.
Fall 1: Lange Wartezeiten beim Gynäkologen (1975)
«Wir waren sechs Frauen, die alle für 13 Uhr bestellt waren», berichtet eine Patientin in der allerersten «Index 5 vor 12»-Ausgabe fassungslos von ihrem Besuch beim Frauenarzt. Dies ist kein Einzelfall. Das Resultat: stundenlanges Warten auf die Behandlung, Frauen, die aufgeben und keine Krebsvorsorge erhalten – und der Eindruck, aufgrund des Geschlechts als weniger wichtig betrachtet zu werden. «Ich habe immer etwas das Gefühl, mein Frauenarzt halte mich für dumm», so dieselbe Patientin.
Doch nicht nur die Wartezeiten vor Ort sind ein Problem: Auch das Ergattern eines Termins erweist sich, zumindest in Bern, als alles andere als leicht. Die «Index 5 vor 12»-Reporterin telefoniert zwei Tage lang über 30, teils telefonisch schwer erreichbare, Praxen ab, um für eine fiktive Patientin eine baldige Konsultation zu vereinbaren – mit mässigem Erfolg. «In Bern gibt es wirklich einen Missstand», bestätigt ein Experte im Interview.
Am Ende warten immerhin gute Nachrichten auf die Hörerinnen und Hörer: Der medizinische Bezirksverein hat eine gynäkologische Untersuchungsstelle organisiert und zwei Tage vor Ausstrahlung der Sendung eröffnet.
Fall 2: Bodybuilding-Produkte mit Wunderversprechen (1983)
Immer wieder stösst die «Index 5 vor 12»-Redaktion auf unlautere Werbeversprechen, so etwa im Jahr 1983. Ein Inserat in Comicform erzählt vom Wandel eines dürren «Suppenkaspers» zum Muskelprotz innert kürzester Zeit. Dieses Wunder verdanke der Mann einer «Trainingsmethode, die der Zeit um 10 bis 15 Jahre voraus ist». Verkauft werden Bodybuilder-Produkte wie Plastikhanteln, Handgriffe, mit denen jeder Muskel auch bei einem kurzen Training «um 300 Prozent aufgebaut» werden soll, und Nahrungsergänzungsmittel.
Ein Oberarzt an der Sporthochschule in Magglingen kann über die Versprechen nur den Kopf schütteln: «Es fehlt jeder Beleg, jede Untersuchung, jedes Ergebnis.» Auch der Präsident des Schweizerischen Amateurbodybuilder-Verbands ist entsetzt, denn mit dieser Werbung werde der ganze Sport lächerlich gemacht: «Es ist ein hartes Training für Muskelzuwachs nötig.»
Das vertreibende Unternehmen hingegen bleibt auch auf Anfrage von «Index 5 vor 12» bei seinen Werbeversprechen. Die Bitte des Radiomagazins, Kontakte zu einigen der angeblich zahlreichen zufriedenen Kundinnen und Kunden herzustellen, wird aus Datenschutzgründen abgelehnt. Dennoch zeigt die Recherche Erfolg: Das Bundesamt für Gesundheit wird bei der Firma vorstellig und sorgt für die Anpassung der Werbeversprechen.
Fall 3: Lockvogel-Methode von Partnerschaftsvermittlungen (1996)
Das Geschäft mit der Suche nach der grossen Liebe boomt – auch schon im letzten Jahrtausend. Anlass für «Espresso», im Jahr 1996 Partnerschaftsvermittlungen genau unter die Lupe zu nehmen. Gemeinsam mit der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) melden sich Mitarbeitende des Radiomagazins zehn Monate lang auf vielversprechende Inserate in Zeitungen und Zeitschriften. Mit 15 Partnervermittlungsbüros vereinbaren die Testpersonen Treffen.
Wer mit Hilfe eines Partnerwahlinstituts seinen Partner oder seine Partnerin fürs Leben sucht, wird nicht unbedingt glücklich, sondern vielleicht ganz einfach arm.
Beim ersten Besprechungstermin bringen die Beraterinnen und Berater oft Vorschläge mit – jedoch, so der «Espresso»-Moderator, «nicht die attraktiven, intelligenten, vermögenden, golfspielenden und doktorierten Traumfiguren», die im Inserat angepriesen wurden, sondern «Durchschnittsmenschen».
Auch die heutige Alt-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, damals bei der Stiftung für Konsumentenschutz, kritisiert im Radiobeitrag die Lockvogel-Werbung. Bei vielen Instituten muss der Kunde oder die Kundin den Vertrag mit Kosten von bis zu 6000 Franken schon beim ersten Treffen unterschreiben und wird laut Sommaruga unter «massiven Druck» gesetzt. Die Methode der Partnerauswahl bleibt im Verborgenen. Oft ist die Rede von einem «ausgeklügelten Computerprogramm», bei dem meist nicht einmal die Beraterinnen und Berater selbst sagen können, wie es funktioniert. Das trockene Fazit des «Espresso»-Sprechers: «Wer mit Hilfe eines Partnerwahlinstituts seinen Partner oder seine Partnerin fürs Leben sucht, wird nicht unbedingt glücklich, sondern vielleicht ganz einfach arm.»
Fall 4: Krankenkasse lehnt Ohrenkorrektur für Kind mit Behinderung ab (2018)
Immer wieder befasst sich «Espresso» mit Krankenkassen, die Versicherten wichtige Leistungen verweigern. So auch im Jahr 2018. Nicolas, neun Jahre, lebt mit einer Entwicklungsstörung. Eine zusätzliche Sorge für seine Eltern: Der Junge wird wegen seiner stark abstehenden Ohren gehänselt. Ein erstes Gesuch um Kostenübernahme einer Ohrenkorrektur bei ihrer Krankenkasse wird jedoch abgelehnt.
Nicolas’ Eltern bitten daraufhin die Universitätsklinik für Kinderheilkunde des Berner Inselspitals um ein Gutachten. Diese hält fest, die zusätzliche soziale Sonderstellung aufgrund seines Äusseren könne «für Nicolas längerfristig zu einer erheblichen Belastung in seiner Persönlichkeitsentwicklung werden». Die Korrektur sei «psychologisch indiziert».
Auf dieser Grundlage reicht die Familie ein zweites Gesuch ein. Es folgt eine Absage, welche die Eltern zutiefst bestürzt. Der Vertrauensarzt der Kasse schreibt, die abstehenden Ohren würden sicher zu Hänseleien führen. Allerdings sei der Junge wegen seiner Entwicklungsverzögerung «sowieso in einer sozialen Aussenseiter-Position». Und weiter: «Dass sich das äussere Erscheinungsbild in Richtung einer zusätzlichen psychischen Krankheit entwickeln könnte, ist rein spekulativ und meines Erachtens bei einer Intelligenzminderung eher unwahrscheinlich im Vergleich zu anderen Kindern.»
Nachdem «Espresso» über den Fall berichtet hat, entschuldigt sich der Geschäftsführer der Krankenkasse. Im Sinne einer Wiedergutmachung werden die Operationskosten nun doch übernommen. Ein Erfolg für Nicolas, seine Eltern und «Espresso».
Fall 5: Senior verliert auf dubioser Anlageplattform 300’000 Franken (2024)
Dass die Recherche und Berichterstattung durch «Espresso» zu Erfolgen für die Geschädigten führen kann, zeigt auch der Fall eines Zürcher Seniors. Der 82-Jährige entdeckt im Internet ein verlockendes Inserat. Mit nur 250 Franken könne er an der Börse grosse Gewinne machen. Ein Zustupf für die Pension erscheint ihm attraktiv. Er gibt online seine Adresse und Telefonnummer an und zahlt 250 Franken auf ein Konto ein. Kurz darauf erhält er den Anruf einer zyprischen Nummer: Sein neuer Anlageberater ist am Apparat. Zwei- bis dreimal pro Woche wird der Senior von nun an angerufen und legt nach Anweisungen des Beraters Geld an.
Der Bildschirm, auf dem ich mein Guthaben sehen sollte, zeigte plötzlich null an.
Anfangs erzielt er so stets kleine Gewinne. Nach rund drei Wochen empfiehlt ihm sein Berater eine Erhöhung des Eingabebetrags, kurz darauf nochmals – bis der Mann 300’000 Franken und damit sein gesamtes Erspartes angelegt hat. Eine digitale Anzeige auf seinem Bildschirm suggeriert ihm, dass das Geld sich beinahe wundersam vermehre. «Plötzlich hatte ich ein Guthaben von 640’000 Franken», erzählt der Senior in der «Espresso»-Sendung. Nun will er 50’000 Franken wieder zurückziehen– doch sein Berater rät dringend ab. Kurz darauf sind plötzlich alle Anlagen massiv im Minus. Um sein Vermögen zu retten, müsse er weiter investieren, so der Berater zum 82-Jährigen. «Zwei Tage später war es einfach fertig. Der Bildschirm, auf dem ich mein Guthaben sehen sollte, zeigte plötzlich null an.»
Der alte Herr beichtet die ganze Geschichte seiner Frau und seinem Sohn, die sich bei «Espresso» melden, um wenigstens andere Menschen vor Anlagebetrug zu warnen. Nach einer Bitte um Stellungnahme durch «Espresso» immerhin ein Teilerfolg: Die dubiose Anlagefirma zahlt rund 100’000 Franken an den Geschädigten zurück.