Als gegen Ende der 1960er Jahre die ersten Hörspiele und Feature-Sendungen in Stereophonie aufgenommen wurden, galt dies als epochaler Schritt. Jetzt, so scheint es, ist die Audiowelt erneut an einer solch einschneidenden wie folgenreichen Schwelle wie beim Übergang von Mono auf Stereo: Es ist der Beginn des binauralen Zeitalters. Und auch hier gilt: Es ist die technische Entwicklung, die diesen Schritt überhaupt erst möglich macht. Noch wichtiger: dank der Entwicklung der Podcasts sind binaurale Produktionen massentauglich geworden – für alle zugänglich.
Was passiert mit uns unter dem Kopfhörer?
Der binaurale Sound wird auch «immersiv» genannt, «surround», oder «3D-Audio». Das heisst: Der hörende Mensch sitzt nicht mehr zwischen zwei Stereo-Lausprechern, die ihn von links und von rechts mit akustischen Informationen versorgen. Vielmehr sitzt das Ohrenpaar jetzt inmitten einer Anordnung von Lautsprechern, die nicht nur die Horizontale in einem Kreis von 360 Grad abbilden (inklusive vorne und hinten), sondern auch die Vertikale mit Schallereignissen, die oben und unten im Raum passieren. Das Ergebnis im Idealfall: man ist beim Hören vom Schall komplett umhüllt. Man befindet sich mitten im Geschehen.
Das Klangerleben war noch nie so «real». Und damit hat es auch eine grössere Dynamik, eine grössere Tiefenwirkung. Und es regt so – das ist beim Hören matchentscheidend – auch viel stärker unsere pychoakustischen Reize an.
Man höre den Unterschied!
Das intensivste immersive Klangerlebnis stellt sich natürlich nur im Raum ein, wenn man sich im entsprechenden Lautsprecher-Setup optimal positioniert. Dem digitalen Fortschritt aber ist es zu verdanken, dass heute Millionen diesen Sound auf die Ohren bekommen können. Der binaurale Raumklang wird nämlich durch ein Programm automatisch umgewandelt in eine binaurale Simulation für Kopfhörer. Wie das klingt, und was den Unterschied zum Stereo ausmacht, das kann man auf dieser genialen Demoseite anhand von Musikbeispielen und auch visuell erfahren:
Binaurale Simulation bei Dolby
SRF Hörspiel: Was bisher geschah oder erste Schritte
Die binaurale Audioproduktion ist noch in der Entwicklung. Es gibt kein Tool, das sofort perfekte Ergebnisse liefert, kein Handbuch mit der ultimativen Anleitung, kein standardisiertes Produkt, das man klonen könnte. Man muss Erfahrungen sammeln, seine eigenen Wege suchen, es ist ein Prozess, und in dem befinden wir uns auch bei SRF. Anfang März letzten Jahres haben wir losgelegt, mit einer ersten reinen Studio-Produktion. Dafür hatten wir uns für zwei «Schreckmümpfeli» entschieden. Das Kurzformat erschien uns sinnvoll für eine erste Annäherung. Ausserdem ging es bei den beiden ausgewählten Stücken darum, akustisch eine surreale, geisterhafte Zwischenwelt zu schaffen.
Wir haben also rein virtuell gearbeitet, mit Monoaufnahmen der einzelnen Stimmen, die dann im neuerdings dreidimensionalen Raum platziert (und zum Teil bewegt) wurden, desgleichen die Effekte, um das Ganze schliesslich rundherum in mehrere Schichten von vorhandenen (Stereo-)Ambiencen zu verpacken. Das war unser «Lern-Blätz», das «Labor SRF binaural» ist geboren.
Auf zum Experimentieren im Feld!
Als nächstes haben sich der Regisseur Buschi Luginbühl zusammen mit dem Tontechniker Franz Baumann auf den binauralen Weg gemacht, mit dem SRF-Radiokrimi «Im Tal der Gebeine» nach dem Roman von Alfred Bodenheimer. Auch hier wurden wiederzuerst die Stimmen getrennt voneinander und mono im Studio aufgenommen (was passenderweise auch noch coronakonform war). Für die Aussenszenen aber verliessen Tontechniker und Regisseur das Studio, um an den Originalschauplätzen in Zürich und Umgebung die passenden binauralen Ambiencen einzufangen. Diese wurden dann mit den Stimmen und der Musik zum fertigen Hörspiel montiert.
Anfang September 2020 liessen wir das Studio ganz hinter uns und unternahmen eine Expedition in den Kanton Appenzell Ausserrhoden. Dort, auf einem Bauernhof «Öber em Tal» spielt der dritte Teil der Hörspiel-Trilogie der Autorin Rebecca C. Schnyder. Und weil ich endlich einmal wieder ein ganzes Hörspiel vor Ort, «on location» realisieren wollte, und weil ich wusste, dass der Tontechniker Roli Fatzer schon seit längerem mit binauralen Aufnahmetechniken experimentierte, beschloss ich, diesen nächsten Schritt mit ihm zu wagen.
Ich fand in Rehetobel ein nicht mehr bewirtschaftetes Bauernhaus, das wir im Innen- und im Aussenbereich bespielen durften, Roli verkabelte alles und richtete im ehemaligen Stall eine Regie ein. Am Tag zwei konnte es losgehen, die Schauspieler kamen, der Nachbar mit dem Traktor, der eine wichtige Rolle spielt, und ab dem Mittag auch brauchbares Wetter. Aber auch so klappte nicht alles auf Anhieb, es musste für jede Szene neu die passende Lösung gefunden werden, auch technisch. Es gab Störgeräusche (Baustelle, Wanderer, Hubschrauber, Mähmaschine), wir brauchten Geduld, gute Nerven, Ausdauer. Aber gleichzeitig waren diese Aufnahmen für alle Beteiligten ein Geschenk. Eine neue Freiheit, Unmittelbarkeit und Lebensnähe, die im Studio nie möglich wäre. Und dazu die sagenhafte Tiefenschärfe der binauralen Aufnahmen – die sich hoffentlich auch im Endprodukt abbildet. Denn noch sind wir erst mit dem Rohschnitt fertig, Musik, Montage und Mix folgen vor Ostern. Nun ist es also fertig und zum Hören bereit: dieses erste integral binaurale Hörspiel, das noch dazu – es ist reiner Zufall! – den passenden Titel trägt: «Zmittst drin».