Kollektive Schuld und Aussicht auf Vergebung
Im 16. Jahrhunderts erlebte der Glauben an Vorzeichen eine Renaissance. Ursprünglich Teil der römischen Religion, wurden ab 1500 Himmelserscheinungen, Monstren und Wundergeburten als Zeichen «von oben» verstanden und entsprechend ausgelegt.
Als Wunderzeichen galten alle Vorkommnisse, die nach dem damaligen Kenntnisstand nicht natürlich erklärbar waren.
Das Auftreten solcher Zeichen – so die gängige Auslegung – war eine unmittelbare Reaktion Gottes auf die rückläufige Frömmigkeit in der Gesellschaft und eine direkte Warnung an die Gläubigen vor weiterem Unheil.
Ursache der wundersamen Ereignisse waren also nicht frevlerische Handlungen eines einzelnen, sondern Vergehen in der Gemeinschaft. So interpretierte man die Geburt eines Hermaphroditen in Zürich 1519 nicht als Strafe Gottes gegen den Säugling oder seine Angehörigen, sondern als ein Zeichen, das sich an alle wendet.
Um weiteres Unheil zu vermeiden und Vergebung zu erlangen, mussten alle Mitglieder der Gemeinde aktiv an einem frommen und gottesfürchtigen Leben teilhaben.
Angst vor dem Ende
Das Prinzip, dass Gott die sündigen Menschen bestraft, aber bei Besserung des Verhaltens zukünftiges Unheil abgewendet werden kann, kannte man im 16. Jahrhundert aus dem Alten Testament.
Zahlreiche Bibelstellen thematisieren die Befürchtungen, dass durch gesellschaftliche Krisen und Naturphänomene die Apokalypse angekündigt wird. Entsprechend galten die Wunderzeichen zu Beginn des 16. Jahrhunderts als «erste Phase» des nahenden Weltendes.
Die «zweite Phase», so überliefert die Bibel, wird durch Himmelszeichen wie eine Sonnen- oder Mondfinsternis angekündigt. Die Menschen waren überzeugt, sich in der ersten Phase zu befinden und entsprechend deutete man die auftretenden Himmelszeichen als Beginn der zweiten Phase. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts war die Bevölkerung in ständiger Erwartung der Apokalypse und fürchtete sich vor dem Jüngsten Gericht.
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Bild 1 von 7. "Unerhörte Wundergeburt" zweier Welpen in der Wikiana. Text und Bild wurden nachträglich zusammengefügt (zwei Blätter), was die unterschiedliche Datierung von Bild (1578) und Text (1575) belegt. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 2 von 7. Das von Johann Jakob Wick gesammelte und eingeklebte Flugblatt berichtet von der Geburt des Antichristen 1574. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 3 von 7. In der Wickiana dokumentierte Wundergeburt eines Mensch-Tier-Mischwesens. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 4 von 7. Am 29. September 1571 hatte sich die Sonne blutrot gefärbt, ein Zeichen für "zweite Phase" vor der Apokalypse (Wickiana). Bildquelle: e-manuscipta ZB Zürich.
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Bild 5 von 7. Himmlisches Wunderzeichen in der Wickiana. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 6 von 7. Sichtung eines sogenannten Blutregens im Jahr 1570. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 7 von 7. Im Jahr 1573 führten Unwetter zu schweren Hungersnöten - die Wickiana berichtet, dass die Menschen aus Verzweiflung Gras assen. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
Verbreitung durch Flugblätter
Wunderzeichen, sogenannte Prodigien, hatten im 16. Jahrhundert Hochkonjunktur und wurden in allen Regionen Europas beobachtet. Dank dem noch jungen Medium des Flugblatts verbreiteten sich die Berichte schnell in alle Ecken des Kontinents. In der Eidgenossenschaft tat sich neben dem Basler Gelehrten Lycosthenes besonders der Zürcher Johann Jakob Wick als Sammler solcher Wunderberichte hervor.
Seine «Wickiana» vereint in unglaublichen 24 Bänden gut 500 Flugschriften und 400 Einblattdrucke zu Naturereignissen, Unglücken, Verbrechen und geschichtlichen Vorkommnissen der Zeit.
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Bild 1 von 5. Flugblatt von 1640 über den Fang eines "ungeheuwren erschröcklichen Meer Monstri" das 1640 bei St. Tropez gefangen und dem König von Frankreich präsentiert wurde. Bildquelle: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt - Kunstmuseum Moritzburg.
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Bild 2 von 5. Als Monster galten alle Tiere, Menschen und Mischwesen, deren Aussehen und Wesen die bekannten Vorstellungen grundlegend in Frage stellten. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 3 von 5. Flugblatt mit Monster zu einer "schröcklich geschicht von einem grausamen Kindt" aus dem Jahr 1576 in der Wickiana. Wunderzeichen wie dieses Kind lösten Debatten darüber aus, was einen Menschen zum Mensch macht oder ihn von seinen Mitmenschen unterscheidet. Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 4 von 5. Bericht eines Monsters mit zwei unterschiedlichen Tierköpfen und vier Beinen (Wickiana). Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
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Bild 5 von 5. Beschreibung eines Monsters, gesichtet in Italien 1569 (Wickiana). Bildquelle: e-manuscripta ZB Zürich.
Dass die Kunde von den Wunderzeichen sich so stark verbreitete, beruhte auf einer Kombination aus generellem Sensationshunger der Menschen, Sammel- und Ordnungswut der Gelehrten und den religiösen und politischen Wirren des 16. Jahrhunderts. Und diese waren zahlreich: Reformationswirren, Bauernkriege und die Türkenbelagerung vor Wien waren neben der Kleinen Eiszeit nur einige der Sorgen, die die Menschen damals beschäftigten.