Fliegende Phallen, reitende Vulven – ist von Pilgerzeichen die Rede, kommt das Gespräch gerne auf die obszönen Zeichen des Mittelalters.
Die erinnern von Form und Grösse her zwar stark an die Abzeichen heiliger Wallfahrtsorte. Tatsächlich handelt es sich aber um derbe Parodien, wohl eigens für die Fastnachtszeit angefertigt.
Beliebte Souvenirs
Die echten Pilgerzeichen erfreuten sich seit dem 12. Jahrhundert grösster Beliebtheit als Souvenirs. Jeder Wallfahrtsort hatte sein eigenes Sujet und liess die kleinen Abzeichen aus Blei und Zinn in Massen produzieren.
Am Engelweihfest in Einsiedeln wurden im Jahr 1466 über 130'000 Stück an gläubige Pilger verkauft. Welche Stückzahlen von der berühmten Jakobsmuschel umgesetzt wurden, die Pilger nach ihrer Ankunft in Santiago de Compostela erstehen konnten, lässt sich nur erahnen.
Schutz und Heilsverheissung
Pilgerzeichen wurden gut sichtbar an Tasche, Hut oder Kleidung angenäht und erzählten Eingeweihten, an welch heiligem Ort der Träger gewesen war. Zum einen gab sich der Pilger damit als gläubiger und gottgefälliger Mensch zu erkennen, zum anderen wurde die Kunde von den Wallfahrtsorten mündlich wie optisch verbreitet. Ausserdem durften Träger von Pilgerzeichen auf Unterstützung während der Reise und Schutz vor Übergriffen zählen.
Nicht zuletzt sollten die kleinen Abzeichen ihre Träger auch dauerhaft mit dem Heilsversprechen des besuchten Ortes verbinden. Ein Glaube, der den späteren Reformatoren ebenso ein Dorn im Auge war wie der verbreitete Reliquienkult.
Rätselhafte Obszönität
Zurück zu fliegenden Phallen und reitenden Vulven: Nicht alle im Mittelalter getragenen Zeichen hatten eine religiöse Bedeutung. Besonders in den Niederlanden, Frankreich und England fanden sich zahlreiche Abzeichen, die zwar daherkommen wie Pilgerzeichen, deren Motive aber mit Frömmigkeit rein gar nichts zu tun haben.
Solche profane (weltliche) Abzeichen sind vorwiegend aus dem späten Mittelalter bekannt. Sie enthalten ein phantasievolles, breites Spektrum an Motiven von Darstellungen von Alltagsszenen über einfache Gegenstände bis hin zu obszön-erotischen Darstellungen. Pilgernde Geschlechtsteile und solche hoch zu Ross, Phallustiere mit und ohne Flügel – das gottesfürchtige Mittelalter stellt man sich definitiv anders vor.
Die derb-profanen Darstellungen geben der Forschung immer noch Rätsel auf. Mehrheitlich wird aber davon ausgegangen, dass die Abzeichen vorwiegend während der Fastnacht getragen wurden. Während der Ausschweifungen vor der Fastenzeit machte man sich damit wohl über die verbreitete Frömmigkeit der Pilgerzeichen-Träger lustig. Zudem bot sich mit der absurd übertriebenen Inszenierung der Sexualität die Möglicheit, auf scherzhafte Weise ein Tabuthema anzusprechen, ohne von der geistlichen Obrigkeit geahndet zu werden.
Ausnahmezustand Fastnacht
Tatsächlich ist in verschiedenen «Policey-Ordnungen» überliefert, dass die Menschen an den Fasnachtstagen tun konnten, was sie wollten, solange sie keine Klage auf sich zogen.
Selbst die Obrigkeit ruhte an diesen Tagen vollständig und der Fiskus feierte wohl oder übel mit. In manchen Städten war sogar das Glücksspiel erlaubt und selbst die Kirche zeigte sich ungewohnt tolerant, indem sie in ihren Sakralbauten die obszön-erotischen Fastnachtszeichen und Verkleidungen (Mummereyen) duldete.
An der Fastnacht genoss man Narrenfreiheit. Danach wanderten Pilger-Vulva & Co. wieder in die Schublade – bis zum nächsten Jahr.