SRF: Sie sagten einmal, ein Stoff müsste Sie leicht überfordern, damit Sie dranbleiben. Was überfordert Sie an Paaren, die kaum mehr Sex haben?
Güzin Kar: In diesem Fall überforderten mich nicht diese Paare, sondern das Format, die Serie. Mit Liebe, Sex und Beziehungen beschäftige ich mich schon lange – auch in Textform. Fürs Fernsehen habe ich seit zehn Jahren nicht mehr gearbeitet. Eine ganze Serie zu realisieren, die von Beziehungen handelt, forderte mich heraus.
Warum heisst sie «Seitentriebe»?
Der Ausdruck kommt aus der Botanik. Manche Pflanzen bilden neben dem Hauptstamm sogenannte Seitentriebe, die man nach Bedarf fördern oder wegschneiden kann. So ist es auch in langjährigen Beziehungen: Irgendwann melden sich neue Sehnsüchte und Verlockungen, ohne dass die Liebe zum Partner oder zur Partnerin abgekühlt sein muss.
Muss Liebe, Familiengründung und Sex heute zwingend mit einem einzigen Partner stattfinden?
Erachten Sie denn die klassische Paarbeziehung – heterosexuell und monogam – als überholt?
Sie steckt zumindest in der Krise. Das Ideal der romantischen Liebe, bei der Sex, Liebe und Fortpflanzung mit demselben Partner gelebt werden sollen, ist nicht naturgegeben. Es ist eine Erfindung des 18. und 19. Jahrhunderts.
Die Diskrepanz zwischen dem behaupteten Ideal und der gelebten Realität überfordert viele Paare, die von einem schlechten Gewissen geplagt sind – etwa, weil nach einer Weile die sexuelle Lust aufeinander nachlässt.
Ich frage mich, welche Möglichkeiten es sonst noch gibt: Muss Liebe, Familiengründung und Sex heute zwingend mit einem einzigen Partner stattfinden?
Diese Art der Geschichte könnte irgendwo spielen. Was ist das Schweizerische daran?
Eine der Hauptfiguren, Gianni, sagt in einer Szene: «Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt, haben alle Freiheiten und wissen nicht, was wir damit anfangen sollen». Ich glaube, dass viele Menschen in der Schweiz die Verbindung zu ihren Sehnsüchten verloren haben. Die latente Melancholie eines ungelebten Lebens schwingt in der Serie als Grundton mit.
Ich werde auf alle Zeiten eine heillose Romantikerin bleiben!
In der Serie treten bisher nur heterosexuelle Paare in Erscheinung. Reproduzieren Sie damit nicht einen eingeschränkten Blick auf Liebesbeziehungen?
Ich wollte nicht die Bandbreite möglicher Liebesbeziehungen aufzeigen, sondern von dieser spezifischen Form erzählen, die in der Krise ist. Schwule und Lesben entsprechen ja gerade nicht dem idealisierten Bild des Zweierpaares und durften bis vor Kurzem nicht einmal heiraten. Auch mussten sie, sobald sie einen Kinderwunsch hatten, andere Wege gehen als die gesellschaftlich favorisierten, die man leider nur den Heteropaaren zugesteht.
Hätte ich von einer homosexuellen Beziehung in der Krise erzählt, spielten andere Voraussetzungen mit rein. Ich würde mich über Serien freuen, die weitere Formen der Liebe beleuchten. Doch das wären andere Geschichten – vielleicht werde ich sie irgendwann schreiben.
Denken Sie nach der Arbeit dieser Serie anders über Langzeitbeziehungen als vorher?
Nein – ich werde auf alle Zeiten eine heillose Romantikerin bleiben! Aber mir ist es wichtig, dass man sein eigenes Lebensmodell niemand anderem aufdrängt und jene, die es anders handhaben, nicht verurteilt.
Unterschiedlichste Beziehungsmodelle sollen gesellschaftlich akzeptiert sein und entsprechend legalisiert werden. Homosexuelle sollen Kinder adoptieren können. Familien sollen mehrere vor dem Gesetz gleich berechtigte Elternteile haben können – und warum sollten nicht drei Leute heiraten anstatt nur zwei?
Das Gespräch führte Katharina Flieger.