Er lief an, mit erhobenem Kopf, antizipierte den Sprung des Goalies und schob dann seelenruhig in die andere Ecke – als ob es das Einfachste der Welt wäre. Bei seinem am Ende entscheidenden Penalty gegen Spanien war Jorginho an Coolness kaum zu überbieten.
Die totale Gelassenheit und Lockerheit zogen sich scheinbar durch das ganze italienische Team. So scherzte Captain Giorgio Chiellini mit seinem eher angespannt wirkenden Pendant Jordi Alba bei der Penalty-Seitenwahl herum: Er neckte den einen Kopf kleineren Spanier mit einem Schubser und einem leichten Schlag gegen die Wange, bei der abschliessenden Umarmung hob er ihn gar etwas vom Boden hoch.
Ferienstimmung auf dem Rasen
Und auch Goalie Gianluigi Donnarumma schien tiefenentspannt und herzte sein Gegenpart Unai Simon mit einem Lächeln. Die Szene erinnerte nicht an eine Situation Sekunden vor einem Halbfinal-Penaltyschiessen, sondern eher an eine Flughafen-Begegnung kurz vor Abflug in die Sommerferien.
Raus (und wohl später auch in die Ferien) flog dann Spanien: Nachdem der tragische Held Alvaro Morata gescheitert war, verwandelte Jorginho seinen Elfmeter – und Italien stand im EM-Final.
Strippenzieher aus der zweiten Reihe
Jorginhos Penalty-Entscheider war das i-Tüpfelchen auf seiner bisherigen Turnierleistung. Dass Italien weiterhin seit nunmehr 33 Spielen in Serie ungeschlagen ist, liegt zu grossen Teilen am «Regista», dem Spielmacher, der tiefstehend die Fäden zieht.
Zwar agiert er unauffällig, ist manchmal fast zu sehr auf Sicherheit bedacht, spielt weniger Steil- und mehr Querpässe. Dafür sind seine Zahlen überragend: Er absolvierte durchschnittlich am zweitmeisten Kilometer aller EURO-Spieler und hat am drittmeisten Bälle erobert (da führt übrigens der Schweizer Manuel Akanji). Zudem fanden 93% seiner Pässe ihr Ziel.
Eines seiner Markenzeichen ist die Passannahme mit dem ballentfernteren Fuss, womit er den Gegner ins Leere laufen lässt und überraschend einen Angriff lancieren kann. Er hat zwar noch keinen einzigen Skorerpunkt gesammelt, dafür zahlreiche zweit- und drittletzte Pässe vor einem Tor gespielt.
Mancini hat die Kurve gekriegt
«Er ist für uns ein sehr wichtiger Spieler, da er das Tempo vorgibt und die ganze Mannschaft zum Ticken bringt», beschreibt ihn Trainer Roberto Mancini. Diese Aussage über den gebürtigen Brasilianer Jorginho tätigte der 56-jährige Chef der «Squadra Azzurra» übrigens kurz vor diesem Turnier.
2015 schien das noch fast undenkbar, als Mancini für einen kleinen Skandal sorgte: «Die italienische Nationalmannschaft muss italienisch sein. Ich denke, dass es ein italienischer Spieler verdient, in der Nationalelf zu spielen, während derjenige, der nicht in Italien geboren ist, auch wenn er italienische Verwandte hat, es nicht verdient. Das ist meine Meinung.»
Diese hat sich scheinbar geändert.