Zu Beginn seiner Karriere lebte Christian Stucki von dem, was ihm die Natur mit auf den Weg gegeben hatte: Unmengen an Kraft und eine Postur, die nicht nur Eindruck machte, sondern vielmehr Ehrfurcht erweckte. Es hat in den frühen Jahren von Schwinger Stucki Gegner gegeben, die sich freiwillig auf den Rücken gelegt haben – um zu verhindern, dass dieser bisweilen über 160 Kilo schwere, riesenhafte Athlet mit Anlauf auf sie drauf fällt.
Die Angst vor gebrochenen Rippen war nachvollziehbar. Bis allgemein erkannt wurde, dass «Chrigu» ein so lieber Kerl ist, dass er schwächere Gegner so schonungsvoll wie möglich ins Sägemehl bettete. Und so offenbarte er sich, dieser faszinierende Mensch, der so stark ist wie sanftmütig.
Legendär sind die Geschichten, die davon erzählen, dass der junge Stucki vor dem Training in der Garderobe noch kurz ein Kilo Wurst verspeiste. Eine maximal ungeeignete Ernährungsstrategie. Ausserdem spielte er nebenbei Fussball, und das Hornussen mochte er auch nicht ganz lassen. Trotzdem gewann er 2001 als 16-Jähriger seinen ersten Kranz. Gewann als 18-Jähriger am Emmentalischen in Wasen alle 6 Gänge und damit sein erstes Kranzfest. Doch so wirklich ernst nahm er die Schwingerei noch längst nicht.
Auch nicht im Jahr 2004, als er am Eidgenössischen in Luzern den formidablen dritten Rang erreichte. Mit all der Kraft und Schnelligkeit, die er halt einfach hatte, ohne viel dafür tun zu müssen. Dann geschahen zwei Dinge.
Im Kraftraum hat's zu wenig schwere Gewichte für ihn
Am Schwarzsee-Schwinget 2006 trug Christian Stucki einen Bluterguss am Schienbein davon. Eine scheinbar harmlose Geschichte, aus der sich aber eine Infektion ergab, die so dramatisch wurde, dass sogar eine Amputation des Unterschenkels zur Diskussion stand. Das schlimmste Szenario konnte zum Glück abgewendet werden, aber Stucki war als Forstwart 14 Monate arbeitsunfähig und konnte eineinhalb Jahre lang nicht trainieren.
Mag sein, dass ihm diese Erfahrung das Bewusstsein vermittelt hat, wie wenig selbstverständlich es ist, einen gesunden und starken Körper zu haben. Und dann begegnete er mit Fabian Lüthi einem Spezialisten im Bereich Athletiktraining, der Stucki davon überzeugen konnte, mehr für den Schwingsport zu tun. Von da an sah man den einstigen Minimalisten mehrmals wöchentlich um sechs Uhr morgens und noch vor Arbeitsbeginn im Kraftraum. Der Erfolg stellte sich unmittelbar ein, und es ergaben sich neue Probleme.
2008 gewann Christian Stucki den Kilchberger Schwinget und damit seinen ersten Titel mit Eidgenössischem Charakter. Das logische nächste Ziel war der Königstitel. Auf dem Weg dorthin waren die morgendlichen Trainingseinheiten im Kraftraum von Schwierigkeiten der ungewöhnlichen Art begleitet. Es kam vor, dass in der Beinpresse zu wenig Gewicht aufgelegt werden konnte. Trotz maximaler Beladung der Hantelstange stemmte Stucki für ein Maximalkrafttraining noch zu viele Wiederholungen. Also setzte sich jemand zusätzlich auf die Stange drauf, erst dann war das Gewicht gross genug.
Eigentlich zu lieb für diesen Sport
Stärker als Athlet Stucki war keiner. Blieb noch die Herausforderung, dass der Mensch Stucki eigentlich für einen knallharten Zweikampf nicht gemacht ist. Er, der schon als Kind den anderen lieber geholfen hat, als ihnen seine Bärenkräfte zu demonstrieren.
Damit Christian Stucki im Sägemehl maximal erfolgreich sein konnte, musste er ein anderer sein, als er eigentlich ist. Er war gezwungen, den lieben Kerl in sich für die Momente des Kampfes verdrängen zu können. Das muss eine unglaublich harte, immer wiederkehrende Aufgabe für ihn gewesen sein.
Erneut begegnete er einem Menschen, der ihn in einem wichtigen Prozess entscheidend unterstützen konnte. Tommy Herzog, wieder ein Athletiktrainer, der bezeichnenderweise zunächst als Stuckis Mentaltrainer bezeichnet wurde, weil er in dessen System einen Modus wecken konnte, der ihn vom gemütlichen «Chrigu» zum Zweikämpfer Stucki machte. Immer wieder.
Auch vor dem Schlussgang des Eidgenössischen in Zug, als Stucki im Zelt der Berner weinte, weil er den Königstitel nach zwei Gestellten Gängen verloren glaubte. Es kam anders. Und vielleicht war Stucki nie weniger sich selber, als in dieser letzten Kampfminute von Zug, die ihn zum König machte. Ein Titel, den Kämpfer Stucki alle gegönnt haben. Und mindestens so sehr dem Menschen Stucki.
Jetzt tritt Christian Stucki zurück. Als einer der Grössten und Erfolgreichsten aller Zeiten. Als einer, der sogar noch mehr aus seinen Möglichkeiten hätte machen können, und der sich genau diese Gedanken selber nie machen wird. Schliesslich ist er der gemütliche Mensch, der zum sportlichen Erfolg begleitet, bisweilen fast genötigt werden musste. Dass dies gelungen ist, dafür wird er letztlich dankbar sein. Genauso sehr wie dafür, bald wieder einfach nur sich selber sein zu können. Der liebenswerte «Chrigu».