Beim Scrollen durch ihren Facebook-Feed sah Manizha Talash 2020 einen Mann, der sich im Kopfstand um die eigene Achse drehte. Erst zweifelte die damals 17-Jährige noch an der Echtheit des Videos, kurz darauf war sie Feuer und Flamme für den neu entdecken Sport «Breaking».
Nur drei Monate später fand sich die Afghanin in einem Tanzstudio in der Hauptstadt Kabul wieder, als einzige Frau umringt von 55 Männern. «Am Anfang war ich noch etwas zurückhaltend, doch bald konnte ich voll mitmachen. Das Geschlecht spielte keine Rolle», erzählt Talash heute.
Angriffe und Morddrohungen
Breaking hat der mittlerweile 21-Jährigen geholfen, den beschwerlichen Alltag besser zu meistern – in einem Land, wo die Rolle der Frau in der Öffentlichkeit besonders kritisch betrachtet wird. «Wenn ich breake, denke ich nicht an negative Dinge und fokussiere mich auf die Bewegungen.»
Doch die erbarmungslose Realität holte Talash schnell ein. Als die Runde machte, dass eine Frau bei der «Superiors Crew» (ihrer Tanzgruppe) mitmachte, wurde das Breaking-Studio mehrfach angegriffen. Es ging sogar soweit, dass die junge Frau Morddrohungen erhielt.
Ich habe heute keine Angst vor nichts und bin hier, um meine Träume zu verwirklichen.
Daraufhin beschloss sie, ihren Namen zu ändern, um ihre Angehörigen vor möglichen Gefahren zu schützen. Talash, der Name, den sie annahm, steht im Persischen für «Streben».
Flucht und dunkles Kapitel
Nach dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan 2021 und der Machtübernahme der Taliban wurde es für Talash und ihre Tanzcrew noch schlimmer. Die damals 18-Jährige wartete nicht lange: Zusammen mit ihrem 12-jährigen kleinen Bruder flüchtete sie nach Pakistan und später nach Spanien.
«Wie alle Flüchtlinge habe ich eine riskante und beschwerliche Reise hinter mir», blickt Talash, die nicht mehr gerne über ihre Zeit in Pakistan spricht, zurück. Trotz aller schrecklichen Erlebnisse ist sie stets kämpferisch geblieben. «Ich habe heute keine Angst vor nichts und bin hier, um meine Träume zu verwirklichen.»
Teilnahme ein «Zeichen an die Welt»
In Spanien machte eine Freundin Talashs das Internationale Olympische Komitee (IOC) auf die Afghanin aufmerksam. Obwohl die Anmeldefrist eigentlich schon abgelaufen war, wurde Talash eingeladen, sich dem Flüchtlingsteam für die Olympischen Spiele in Paris anzuschliessen.
Nun hat sie am Freitag die Gelegenheit, sich auf der ganz grossen Bühne bei Paris 2024 zu präsentieren. Sie ist die einzige Geflüchtete im Feld. Mit den Favoritinnen, die aus Japan (Ayumi Fukushima und Ami Yuasa) oder Litauen (Weltmeisterin Dominika Banevic) stammen, wird «B-Girl Talash» wohl nicht mithalten können.
Doch ihr geht es sowieso um ganz anderes: «Ich möchte mit dem Breaking eine Inspiration sein und andere ermutigen, es mir gleich zu tun. Meine Anwesenheit ist ein Zeichen an die Welt.»