SRF Sport: Heinz Günthardt, wie schätzen Sie Roger Federers Leistung in Cincinnati ein?
Heinz Günthardt: Er hat in erster Linie hervorragend serviert. Die Basis seines Spiels hat super funktioniert. Beim Return hingegen hat er Mühe bekundet. Er wollte so aggressiv retournieren wie im letzten Jahr, das ist ihm aber nicht gelungen. Ich hatte den Eindruck, dass er ständig auf der Suche nach dem richtigen Timing war.
Können Sie sich erklären, weshalb er so grosse Schwierigkeiten mit dem Timing hatte?
Das kann verschiedene Gründe haben. Klar ist aber: Wenn man so aggressiv auftritt wie Federer, sind die Margen extrem klein. Wenn es funktioniert, sieht es einfach und lässig aus. Wenn das letzte Vertrauen aber fehlt, häufen sich bei dieser Spielweise die Fehler.
Die aggressive Spielweise ist wie gemacht für Federer. Denken wir nur an 2017 zurück: Da ist bei ihm fast alles aufgegangen.
Federer hat auch im Final gegen Novak Djokovic an seinem Plan festgehalten, beim Return vor allem bei zweiten Aufschlägen durchzuziehen. Weshalb?
Ich kann mir gut vorstellen, dass es sein Plan ist, auch bei den US Open so offensiv aufzutreten. Das Turnier in Cincinnati hat er dafür als Vorbereitung und Standortbestimmung gebraucht. Die Konsequenz war also, dass er sein Vorhaben bis zum Schluss durchzieht.
Hat es in erster Linie damit zu tun, dass Federer lange und kraftraubende Ballwechsel vermeiden möchte?
Das ist bestimmt ein Grund, aber nicht der einzige. Die aggressive Spielweise ist wie gemacht für ihn. Denken wir nur an 2017 zurück: Da ist bei ihm fast alles aufgegangen, selbst der pfeilschnelle und einstige Angstgegner Rafael Nadal sah oft alt aus. Es ist ja nicht so, dass andere nicht versuchen würden, auch so offensiv zu spielen. Aber ein solch hohes Risiko zahlt sich nur selten aus. Keiner kann das besser als Roger. Weshalb sollte er also nicht daran festhalten?
In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger gab Federer zu, bei ATP-1000-Turnieren, wo er praktisch jeden Tag gegen Top-Spieler im Einsatz steht, gegen Ende etwas müder zu sein als früher. Wie werten Sie diese Aussage?
Nun, wenn er das sagt, dann wird es wohl stimmen. (lacht) Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der physische Aspekt in Cincinnati eine Rolle gespielt hat. Er musste zwar zwei Matches an einem Tag bestreiten, im Halbfinal konnte er aber Energien sparen. Ich glaube, es geht hier um eine andere Müdigkeit.
Federer weiss, woran er in den kommenden Tagen arbeiten muss.
Wie meinen Sie das?
Wenn es nicht so gut läuft respektive ein Plan nicht wie gewünscht aufgeht, fängt es im Kopf an zu arbeiten. Man ist weniger relaxt, fühlt sich gestresst, wird schneller müde. Das kann mental sehr anstrengend sein.
Federer selbst gab sich nach der Finalniederlage sehr selbstkritisch. Was heisst das nun für die unmittelbare US-Open-Vorbereitung?
Er weiss, woran er in den kommenden Tagen arbeiten muss. Er wird den Return noch einmal intensiv trainieren und hoffen, dass das gute Gefühl zurückkehrt. Manchmal geht das schnell und es ist über Nacht wieder da.
Wie schätzen Sie seine Chancen auf ein gutes Abschneiden in New York ein?
Sie sind auf jeden Fall intakt. Wir dürfen bei aller Kritik nicht vergessen: Federer hat in Cincinnati den Final erreicht und sensationell serviert. Bis zum Final hat er kein Break kassiert. Mit dieser Basis ist vieles möglich.
Interview: Svenja Mastroberardino
Sendebezug: SRF zwei, sportlive, 19.8.18, 22:00 Uhr