Die Szenerie hatte etwas Skurriles. Das ganze Stadion in Paris wusste via Social Media wohl schon, dass auf dem Platz die neue Nummer 1 stand – ausser Jannik Sinner selbst.
Nachdem er mit einem souveränen Dreisatzsieg gegen Grigor Dimitrov erstmals in seiner Karriere die Halbfinals der French Open erreicht hatte, erfuhr er allerdings schnell von seinem Glück. Wobei der Begriff falscher kaum sein könnte. Mit Glück hat Sinners Aufstieg auf den Gipfel sehr wenig zu tun.
«Es ist der Traum jedes Tennisspielers, die Nummer 1 zu werden», sagte der bescheidene Südtiroler beim Platzinterview mit Fabrice Santoro, ohne dabei zu vergessen, sein Bedauern über Djokovics Meniskusverletzung auszudrücken. Der serbische Titelverteidiger musste deshalb für den Viertelfinal am Mittwoch gegen seinen letztjährigen Finalgegner Casper Ruud Forfait erklären und seinen Thron kampflos preisgeben.
Ein sehr spezieller Moment
«Das ist natürlich ein sehr spezieller Moment für mich», bekannte der gerührte Sinner. «Und ich freue mich, diesen mit euch zu teilen.» Paris war für ihn bisher kein gutes Pflaster. Einzig bei seinem Debüt 2020 hatte er die Viertelfinals erreicht, im letzten Jahr war bereits in der 2. Runde Endstation.
Entsprechend viele Punkte konnte Sinner nun gutmachen. Spätestens mit seinem Triumph an den Australian Open im Januar, mit einem Halbfinalsieg gegen Djokovic, hatte sich der 22-Jährige aus Sexten in eine gute Position gebracht und diese mit weiteren Titeln in Rotterdam und Miami weiter verfeinert. Nun ist er die 29. Nummer 1 in der Geschichte der Weltrangliste (seit 1973).
Lottosechser im Coaching-Staff
Der ehemals viel versprechende Nachwuchs-Skirennfahrer, der auch heute noch gerne wandert und auf den Ski steht, um der hektischen Glitzerwelt des Tennis zu entfliehen, ist ein Musterbeispiel, was mit kluger Planung, Akribie und seriöser Arbeit – neben ganz viel Talent natürlich – möglich ist.
Im Februar 2022 wechselte er vom italienischen Starcoach Riccardo Piatti, der ihn seit dem Alter von 13 Jahren und dem Wegzug aus dem Südtirol betreut hatte, zum weniger bekannten Simone Vagnozzi. Ein halbes Jahr später holte er mit dem erfahrenen Australier Darren Cahill einen weiteren Mann ins Boot, der aus seiner Zeit mit Andre Agassi, Andy Murray, Ana Ivanovic oder Simona Halep weiss, wie es ist, um die grossen Titel zu spielen. Vagnozzi für die Technik und Taktik, Cahill für die richtige mentale Einstellung – die Kombination erwies sich als Lottosechser.
Nur der Körper kann ihn bremsen
Einzig der Körper konnte Sinner, der in Italien auch mit dem Gewinn des Davis Cups eine gewaltige Tenniseuphorie ausgelöst hat, zwischenzeitlich etwas einbremsen. Ausgerechnet das Heimturnier in Rom musste er wegen Hüftproblemen auslassen, lange bangte er um den Start in Paris.
Nun aber tritt er wie ein abgebrühter Champion auf, auch taktisch und mental unglaublich stark. Bestes Beispiel: Der Achtelfinal gegen Corentin Moutet, als er im ersten Satz kaum einen Ball sah, derart überragend spielte der Franzose, jedoch immer ruhig blieb und am Ende sicher in vier Sätzen gewann.
Die Bodenständigkeit des Sohnes eines Kochs und einer Serviererin, die im Sextental im äussersten Nordosten des Südtirols eine Pension betreiben, dürfte dafür sorgen, dass Sinner nicht abhebt und eine grosse Zukunft vor sich hat.