Zum Inhalt springen
Audio
Mit einem Avatar gezielter gegen den Krebs
Aus Wissenschaftsmagazin vom 27.05.2023. Bild: Martina Minoli / Marianna Kruithof-de Julio
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 25 Sekunden.

Bessere Heilungschancen Mit einem Tumor-Avatar gezielter gegen Blasenkrebs

Medikamente an Organoiden testen, bevor die Chemotherapie beginnt: Dies testet eine Studie am Spitalzentrum Biel.

Seit 20 Jahren behandelt Roland Seiler Patientinnen und Patienten, die an Blasenkrebs erkrankt sind. Nun hat für den Chef-Urologen des Spitalzentrums Biel ein neues Kapitel auf diesem Gebiet begonnen: mit Organoiden – kleinsten, organähnlichen Strukturen, die aus dem Tumorgewebe der jeweiligen Patienten gezüchtet werden.

Diese Avatare sollen dem Arzt helfen, für den individuellen Patienten das richtige Medikament zu wählen. «Anstatt einer Behandlung, wie jeder sie bekommt, können wir verschiedene Medikamente testen und dem Patienten letztlich dasjenige geben, das am besten wirkt», sagt Roland Seiler.

Personalisierte Onkologie

Wie bei vielen Krebsarten sind auch beim Blasenkrebs die Krebszellen genetisch sehr verschieden. Jede Person und jeder Tumor reagieren unterschiedlich auf eine bestimmte Behandlung. «In der Klinik werden standardmässig vier verschiedene Medikamente eingesetzt», erklärt Roland Seiler. «Dies geschieht jedoch ziemlich willkürlich – etwa nach Verfügbarkeit in einem Spital oder Vorliebe des behandelnden Arztes –, nicht aber gezielt nach biologischen Merkmalen.» Weniger als 30 Prozent der Patienten sprechen derzeit auf die Standard-Medikation an.

Das soll eine Organoid-Studie ändern. Im Zeitraum zwischen der operativen Entfernung des Tumors und der anschliessenden Chemotherapie mittels Blasenspülung werden aus dem Tumorgewebe kleine Mini-Avatare gezüchtet. An diesen werden die Medikamente getestet. Das Verfahren wird zurzeit in Biel erprobt – in einer laufenden klinischen Studie, in die 34 Patientinnen und Patienten eingeschlossen werden sollen. Vier Patienten hat Seiler bereits behandelt.

 

Hohes Rückfall-Risiko beim Blasenkrebs

Box aufklappen Box zuklappen

In der Schweiz erkranken jedes Jahr 1300 Menschen an Blasenkrebs. Bei drei Viertel der Betroffenen ist der Krebs auf die Blasenschleimhaut begrenzt – in der Medizin spricht man von nicht-muskelinvasiven Tumoren. Nach der Diagnose wird der Tumor durch die Harnröhre entfernt, eine Art Auskratzung. Vier bis sechs Wochen später bekommt der Patient eine Blasenspülbehandlung: Die Blase wird drei- bis sechsmal mit einem Chemotherapeutikum gespült.

Die Aussichten auf Heilung sind beim nicht-muskelinvasiven Blasenkrebs zwar insgesamt günstig, Betroffene haben aber ein hohes Risiko für ein Rezidiv – dass der Tumor nach einiger Zeit zurückkehrt. Der Grund liegt in der hohen genetischen Vielfalt der Krebszellen. Dies hat zur Folge, dass weniger als 30 Prozent der Betroffenen auf die Standard-Behandlung ansprechen: Ob das «richtige» Medikament gewählt wird für eine einzelne Patientin, war bisher Zufall.

Mit den vorgängigen Tests an den Tumor-Avataren soll es gelingen, die Behandlung ein Stück weit zu personalisieren.

Für die massgeschneiderte Behandlung brauchte es viel Vorarbeit im Labor. Sie passiert am Inselspital und an der Universität Bern, am Departement für biomedizinische Forschung.

Dort leitet Marianna Kruithof-de Julio das Forschungsteam der Klinik für Urologie. Im Fachblatt Nature Communications hat die Medizinerin vor kurzem die Bilder von Tumor-Avataren präsentiert, die sie und ihr Team aus Biopsien von 41 Betroffenen mit Blasenkrebs generiert hatten.

Ihr Forschungsteam konnte zeigen, dass die Mini-Tumore die wichtigen Eigenschaften aus dem ursprünglichen Krebsgewebe beibehielten: Die Organoide bildeten nicht nur die genetische Vielfalt der Muttertumore ab, sondern auch deren Struktur.

Versuche mit Organoiden stehen in den Anfängen

Der nächste Schritt bestand darin, an den Mini-Tumoren verschiedene Krebsmedikamente zu testen, die gezielt ins Tumorwachstum eingreifen. «Unsere Organoide entwickeln sich im Reagenzglas sozusagen in der Schwebe», erklärt Kruithof-de Julio, «das heisst, sie brauchen keine stützende extrazelluläre Struktur, um wachsen zu können.» Medikamente könnten so effizient zu den Organoiden vordringen.

Auf dem Bild sind Blasenkrebs-Organoide zu sehen.
Legende: Grün, blau und rot eingefärbte Blasentumor-Organoide. Martina Minoli / Marianna Kruithof-de Julio

Die Idee, Medikamente an Organoiden zu testen, ist in der Onkologie zwar nicht neu. Beim Darmkrebs etwa oder Bauchspeicheldrüsenkrebs laufen entsprechende klinische Versuche. Allerdings steht man hier noch in den Anfängen. In der Urologie ist die Bieler Studie die erste überhaupt, die mit Organoiden arbeitet.

Roland Seiler ist davon überzeugt, dass sich die Organoid-Testung auch in anderen Bereichen der Onkologie durchsetzen wird. Die Behandlung werde dadurch effizienter und unter dem Strich kostengünstiger. Und: «Die Patienten haben weniger Rückfälle und leiden weniger.»

Wissenschaftsmagazin, 27.05.2023, 12:40 Uhr

Meistgelesene Artikel