Etwa im zweiten Lebensjahr entdeckt das Kind, dass es in der Welt Spuren hinterlässt – beim Laufen im Sandkasten oder im Schnee etwa, beim Verschmieren von Brei auf dem Tisch oder beim Kritzeln mit Stift auf Papier. Mit zunehmendem Alter entwickelt sich nicht nur das Kind, auch die Zeichnungen verändern sich (siehe Bildergalerie).
Mit etwa zwei Jahren entsteht erstes Gekritzel. Es folgen erste geometrische Formen. Die vier Punkte auf dem Kreis lassen bereits ein Rechteck erahnen. Dann – mit etwa vier Jahren – zeichnen Kinder sogenannte Kopffüssler, die an Figuren erinnern.
Zeichnerische Motive mit mehr Details entstehen in der Regel ab dem fünften Lebensjahr. Gebannt beobachten nun Eltern, Kindergärtnerinnen, Lehrer und Kinderpsychologen, was auf dem Papier entsteht und was es zu bedeuten hat. Kinderzeichnungen würden aber oft überbewertet, sagen Fachleute wie Entwicklungspädiater Oskar Jenni vom Kinderspital Zürich und Kinderpsychiaterin Christine Kutschal vom Inselspital Bern und warnen vor voreiligen Schlüssen.
Motorik oft zu wenig berücksichtigt
Oskar Jenni, Leiter der Abteilung für Entwicklungspädiatrie am Zürcher Kinderspital, hat für eine Studie Hunderte Zeichnungen von Zürcher Kindern analysiert. Für den Kinderarzt sind Zeichnungen ein Abbild der Gesamtentwicklung eines Kindes, die emotionale, kognitive und motorische Fähigkeiten mit einschliesst. Auch in den Tests, die er zur Abklärung des Entwicklungstands am Kinderspital macht, geht es darum, sich ein möglichst vielfältiges und umfassendes Bild der Stärken und Schwächen eines Kindes zu machen.
Aus einer Zeichnung auf den IQ eines Kindes zu schliessen, sei schlicht unmöglich. Neben den geistigen Fähigkeiten fliessen zum Beispiel auch die Fingerfertigkeit, die Förderung durch die Eltern und die eigene Leidenschaft am Zeichnen in das Endresultat mit ein. Kinderzeichnungen dürften deshalb nicht überbewertet werden.
Therapeutisches Zeichnen
Christine Kutschal ist Kinderpsychiaterin am Inselspital in Bern. In der Therapie setzt sie Zeichnen als Hilfsmittel für den gemeinsamen Dialog ein, um so auch Vertrauen zwischen Therapeutin und Patient zu schaffen: «Kinderzeichnungen können uns in einer natürlichen Weise einen Einblick in die Erlebnis- und Erfahrungswelt des Kindes liefern. Sie zeigen manchmal Dinge auf, für die Kinder noch keine Worte haben, um sie uns Erwachsenen mitzuteilen. Um ihre Welt zu verstehen, ist es wichtig, den Kindern aufmerksam zuzuhören, um wichtige Einblicke zu erhalten.»
Kinderzeichnungen können Fachleuten Hinweise auf emotionale Belastung – zum Beispiel Selbstwert- oder Identitätsprobleme sowie Entwicklungsblockaden – liefern. Zudem können sie zum Teil diagnostisch eingesetzt werden, um eine zur Wahrnehmung des Kindes passende Therapie in die Wege zu leiten.
Einblick in die Gefühlswelt
Kinderzeichnungen sind nur ein Baustein in der Therapie und Diagnostik, die jedoch wichtige Informationen beinhalten über aktuelle Themen, mit denen das Kind sich auseinandersetzt, seine individuelle Wahrnehmung und seine Gefühlswelt.
Therapeutisch genutzt können Zeichnungen helfen, schwierige Erlebnisse zu verarbeiten, Ängste zu überwinden und Entwicklungsblockaden zu lösen. Dabei kann der Therapeut mit Hilfe der Zeichnungen in die Phantasiewelt des Kindes eintauchen und ihm bei der Bewältigung seiner Schwierigkeiten helfen.
Teilweise liefern Kinderzeichnungen und der dadurch entstehende Dialog über das Gezeichnete Therapeuten Hinweise auf individuelle Lösungsversuche des Kindes. Es ist wichtig, Kinderzeichnungen im Kontext, in dem sie stehen, zu interpretieren und zu wissen, dass je nach Alter Phantasie und Realität im Kindesalter fliessende Übergänge haben.
Christine Kutschal erinnert sich an eine Zeichnung mit einem Teufel mit rotem Schwanz, die ihr von besorgten Eltern zugeschickt wurde. Im Gespräch mit dem Kind stellte sich dann aber schliesslich heraus, dass es sich einfach um ein Sujet aus der aktuellen Fasnacht handelte. Der vermutete sexuelle Übergriff hatte sich damit in heisse Luft aufgelöst.