Rund 3500 Kinder und Jugendliche hierzulande leben mit Diabetes Typ 1, einer der häufigsten Autoimmun- und Stoffwechselkrankheiten bei jungen Menschen. Jahrelang war die Neuerkrankungsrate relativ stabil – bis zu Beginn der Pandemie etwas passierte, das bislang niemand erklären kann: Die jährliche Steigerung der Neuerkrankungen verzehnfachte sich plötzlich – von etwa zwei auf rund 20 Prozent. Das zeigen internationale Zahlen.
Höchstwerte auch in der Schweiz
Auch in der Schweiz stiegen Neudiagnosen, wenn auch etwas weniger deutlich. «Die höchsten Zahlen haben wir tatsächlich 2021 gehabt», sagt Daniel Konrad, Chefarzt für pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Universitäts-Kinderspital Zürich.
Seinen Angaben zufolge traf die Erkrankung vor der Pandemie etwa 200 Kinder pro Jahr – 2021 dann aber zwischen 240 und 250. «Und zeitlich gibt es natürlich eine klare Koinzidenz zur Corona-Pandemie.»
Nur: Was genau die Rekordzahlen verursacht hat, ist unklar. Denn die Datenlage ist unvollständig und teils widersprüchlich.
Was verraten die Blutproben?
Aber Erklärungsversuche gibt es mehrere: Einige Studien deuten darauf hin, dass SARS-CoV-2 ein Diabetes-Triggerfaktor ist bei Menschen, die genetisch bedingt ein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben. Das heisst konkret: Das Coronavirus könnte – ähnlich wie etwa das Coxsackie-Virus – jenen Autoimmunprozess auslösen oder beschleunigen, der die insulinproduzierenden Bauchspeicheldrüsenzellen zerstört.
So haben etwa Forscher aus München und Leipzig während der Pandemie regelmässig Blutproben von 885 Kleinkindern mit Diabetes-Risikogenen analysiert. Dabei zeigte sich: Jene Kinder, die sich mit SARS-CoV-2 infizierten, entwickelten doppelt so häufig ein Diabetes-Frühstadium wie Kinder ohne Covid. Nachweisbar war das über spezielle Auto-Antikörper in ihrem Blut.
Fehlten dem Immunsystem Trainingsmöglichkeiten?
Ein zweiter Erklärungsversuch für die Diabetes-Rekordzahlen weist in eine ganz andere Richtung: Einige Studien legen nämlich nahe, dass eventuell auch der Infektionsschutz während der Pandemie eine Rolle gespielt haben könnten. – Stichwort: fehlendes Training fürs Immunsystem.
«Wir haben Masken getragen. Wir haben die Hände desinfiziert. Wir sind nicht mehr rausgegangen», so Daniel Konrad vom Uni-Kinderspital Zürich. «Das Immunsystem war weniger beschäftigt mit der Bekämpfung von anderen viralen Infekten. Und vielleicht kann das dann bei einem genetisch prädisponierten Menschen die Entwicklung einer Autoimmunität fördern. Ich glaube, das wäre auch möglich.»
Echte Zunahme – oder bloss andere Verteilung?
Inzwischen ist die Zahl der Diabetes-Neudiagnosen bei Kindern jedenfalls wieder deutlich gesunken. Deshalb vermuten manche Fachleute: Langfristig betrachtet gibt es vielleicht insgesamt gar nicht mehr Fälle – sondern sie haben sich auf den Pandemiebeginn vorverlagert und dort gehäuft. Ob das wirklich so ist und ob einer oder mehrere Faktoren die vielen Diabetes-Neudiagnosen verursacht haben – das muss weitere Forschung zeigen.