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Diabetes während Corona Diabetes-Rekorde bei Kindern lassen Forschende rätseln

Vor vier Jahren stieg die Zahl der Neudiagnosen von Diabetes Typ 1 bei Kindern weltweit deutlich an. Studien weisen auf einen Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hin. Die Wissenschaft versucht jetzt im Detail zu klären, was genau die Ursachen sind – doch das ist nicht einfach.

Rund 3500 Kinder und Jugendliche hierzulande leben mit Diabetes Typ 1, einer der häufigsten Autoimmun- und Stoffwechselkrankheiten bei jungen Menschen. Vor der Pandemie war die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen relativ stabil – mit leicht steigender Tendenz: Sie wuchs pro Jahr um etwa zwei Prozent. Im Jahr 2019 entwickelten in der Schweiz etwa 16,5 von 100 000 Kindern neu einen Diabetes Typ 1 – das entsprach etwa 200 Kindern insgesamt.

Mit Beginn der Pandemie aber kam es dann zu einem deutlichen Anstieg: «Die höchsten Zahlen haben wir tatsächlich 2021 gehabt», sagt Daniel Konrad, Chefarzt für pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Universitäts-Kinderspital Zürich.

Was bei Diabetes Typ 1 im Körper passiert 

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Diabetes Typ 1 ist eine unheilbare Krankheit. Zunächst zerstört das fehlgeleitete Immunsystem die sogenannten Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Diese Zellen produzieren das Hormon Insulin. Insulin ist wichtig, damit die Körperzellen Glukose – also Zucker – aus dem Blut überhaupt aufnehmen und verwerten können. Ohne Insulin bleibt der Zucker im Blut und kann nicht genutzt werden. Menschen mit Diabetes Typ 1 brauchen deshalb ihr Leben lang eine Insulintherapie. 

Im Frühstadium der Krankheit beginnt der Autoimmunprozess, also die langsame Zerstörung der Betazellen. In dieser Phase kann der Diabetes nur über bestimmte Biomarker im Blut nachgewiesen werden. Erst im dritten Stadium zeigen sich Symptome: Die Betroffenen haben grosser Durst, scheiden viel Urin aus und nehmen stark ab. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer schweren Stoffwechselentgleisung, der sogenannten Ketoazidose. Diese kann unbehandelt tödlich enden. 

Der Chefarzt trägt etwa 90 Prozent aller Neudiagnosen in der Schweiz zusammen. Im Jahr 2021 entwickelten seinen Angaben zufolge hierzulande etwa 19 von 100 000 Kindern einen Diabetes – was gut 240 neuen Fällen entsprach.

Kind injiziert sich Insulin in den Arm.
Legende: Neudiagnosen der unheilbaren Krankheit Diabetes Typ 1 nahmen bei Kindern seit der Pandemie stark zu. IMAGO / Shotshop

Dieses Phänomen war nicht auf die Schweiz begrenzt: Ein ähnlicher Anstieg wurde weltweit beobachtet – das zeigen internationale Zahlen. «Und zeitlich gibt es natürlich eine klare Koinzidenz zur Corona-Pandemie», sagt Konrad.

Wen die Erkrankung trifft

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Die Krankheit bricht in der Regel schon im Kindesalter aus. Sie trifft nur Menschen, die durch bestimmte Gene dafür anfällig sind.

Allerdings reicht die genetische Veranlagung allein nicht aus. Hinzu kommen ungünstige Umweltfaktoren, die Fachleute als Triggerfaktoren bezeichnen. Neben bestimmten Viruserkrankungen stehen etwa ein Vitamin-D-Mangel und der frühe Verzehr glutenhaltiger Lebensmittel bei Babys im Verdacht, Diabetes zu triggern.

Das heisst: Nicht jeder, der Risiko-Gene hat, entwickelt automatisch auch einen Diabetes. Aber jeder, der einen Diabetes entwickelt, trägt diese Risiko-Gene in sich.

Nur: Was genau die Rekordzahlen verursacht hat, ist unklar. Denn die Datenlage ist unvollständig und teils widersprüchlich.

Was verraten die Blutproben? 

Aber Erklärungsversuche gibt es mehrere: Einige Studien deuten darauf hin, dass SARS-CoV-2 ein Diabetes-Triggerfaktor ist bei Menschen, die genetisch bedingt ein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben. Das heisst konkret: Das Coronavirus könnte  – ähnlich wie etwa das Coxsackie-Virus – jenen Autoimmunprozess auslösen oder beschleunigen, der die insulinproduzierenden Bauchspeicheldrüsenzellen zerstört.

So haben etwa Forscher aus München und Leipzig während der Pandemie regelmässig Blutproben von 885 Kleinkindern mit Diabetes-Risikogenen analysiert. Dabei zeigte sich: Jene Kinder, die sich mit SARS-CoV-2 infizierten, entwickelten doppelt so häufig ein Diabetes-Frühstadium wie Kinder ohne Covid. Nachweisbar war das über spezielle Auto-Antikörper in ihrem Blut.

Forschung an künstlich erzeugten Mini-Bauchspeicheldrüsen

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Auch eine Arbeit von US-Forschern liefert Hinweise, dass das SARS-CoV-2-Virus eine Rolle spielen kann bei der Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse. Wissenschaftler des Weill Cornell Medical College in New York untersuchten Bauchspeicheldrüsengewebe von Menschen, die an COVID-19 verstorben waren. Dabei fanden sie heraus, dass die sogenannten Pankreasinseln, in denen das Insulin produziert wird, beschädigt worden waren – und zwar durch bestimmte Zellen des körpereigenen Immunsystems. Deren Aufgabe ist es eigentlich, Krankheitserreger abzutöten – aber dabei verursachen sie manchmal eben auch Kollateralschäden an gesundem Gewebe.

Anschliessend infizierten die Wissenschaftler künstlich hergestellte Mini-Bauchspeicheldrüsen – so genannte Organoide – mit dem SARS-CoV-2-Virus. Dabei konnten sie beobachteten, wie genau die Immunzellen die insulinproduzierenden Zellen zerstören – nämlich durch eine Art Zelltod namens Pyroptose.

Eine ähnliche Reaktion sahen die Forscher übrigens auch, als sie die Organoide mit dem Coxsackievirus B4 infizierten. Dieses Virus steht schon seit längerer Zeit im Verdacht, Diabetes Typ 1 zu triggern.

Fehlten dem Immunsystem Trainingsmöglichkeiten?

Ein zweiter Erklärungsversuch für die Diabetes-Rekordzahlen weist in eine ganz andere Richtung: Einige Studien - etwa aus Deutschland und aus Finnland - legen nämlich nahe, dass eventuell auch der Infektionsschutz während der Pandemie eine Rolle gespielt haben könnten. – Stichwort: fehlendes Training fürs Immunsystem.

«Wir haben Masken getragen. Wir haben die Hände desinfiziert. Wir sind nicht mehr rausgegangen», so Daniel Konrad vom Uni-Kinderspital Zürich. «Das Immunsystem war weniger beschäftigt mit der Bekämpfung von anderen viralen Infekten. Und vielleicht kann das dann bei einem genetisch prädisponierten Menschen die Entwicklung einer Autoimmunität fördern. Ich glaube, das wäre auch möglich.»

Echte Zunahme – oder bloss andere Verteilung?

Inzwischen ist die Zahl der Diabetes-Neudiagnosen bei Kindern jedenfalls wieder deutlich gesunken. Deshalb vermuten manche Fachleute: Langfristig betrachtet gibt es vielleicht insgesamt gar nicht mehr Fälle – sondern sie haben sich auf den Pandemiebeginn vorverlagert und dort gehäuft. Ob das wirklich so ist und ob einer oder mehrere Faktoren die vielen Diabetes-Neudiagnosen verursacht haben – das muss weitere Forschung zeigen.

Korrektur-Hinweis

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Wir haben diesen Text überarbeitet, weil er in seiner ursprünglichen Fassung den falschen Eindruck erwecken konnte, jedes fünfte Kind in der Schweiz sei zu Beginn der Corona-Pandemie neu mit Diabetes Typ 1 diagnostiziert worden. Das ist natürlich nicht der Fall gewesen. Wir haben die entsprechende Passage umformuliert und bitten um Entschuldigung.

Zudem wurde die Box «Forschung an künstlich erzeugten Mini-Bauchspeicheldrüsen» nachträglich ergänzt.

Wissenschaftsmagazin, 18.01.2025, 12:40 Uhr

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