Rund 3500 Kinder und Jugendliche hierzulande leben mit Diabetes Typ 1, einer der häufigsten Autoimmun- und Stoffwechselkrankheiten bei jungen Menschen. Vor der Pandemie war die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen relativ stabil – mit leicht steigender Tendenz: Sie wuchs pro Jahr um etwa zwei Prozent. Im Jahr 2019 entwickelten in der Schweiz etwa 16,5 von 100 000 Kindern neu einen Diabetes Typ 1 – das entsprach etwa 200 Kindern insgesamt.
Mit Beginn der Pandemie aber kam es dann zu einem deutlichen Anstieg: «Die höchsten Zahlen haben wir tatsächlich 2021 gehabt», sagt Daniel Konrad, Chefarzt für pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Universitäts-Kinderspital Zürich.
Der Chefarzt trägt etwa 90 Prozent aller Neudiagnosen in der Schweiz zusammen. Im Jahr 2021 entwickelten seinen Angaben zufolge hierzulande etwa 19 von 100 000 Kindern einen Diabetes – was gut 240 neuen Fällen entsprach.
Dieses Phänomen war nicht auf die Schweiz begrenzt: Ein ähnlicher Anstieg wurde weltweit beobachtet – das zeigen internationale Zahlen. «Und zeitlich gibt es natürlich eine klare Koinzidenz zur Corona-Pandemie», sagt Konrad.
Nur: Was genau die Rekordzahlen verursacht hat, ist unklar. Denn die Datenlage ist unvollständig und teils widersprüchlich.
Was verraten die Blutproben?
Aber Erklärungsversuche gibt es mehrere: Einige Studien deuten darauf hin, dass SARS-CoV-2 ein Diabetes-Triggerfaktor ist bei Menschen, die genetisch bedingt ein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben. Das heisst konkret: Das Coronavirus könnte – ähnlich wie etwa das Coxsackie-Virus – jenen Autoimmunprozess auslösen oder beschleunigen, der die insulinproduzierenden Bauchspeicheldrüsenzellen zerstört.
So haben etwa Forscher aus München und Leipzig während der Pandemie regelmässig Blutproben von 885 Kleinkindern mit Diabetes-Risikogenen analysiert. Dabei zeigte sich: Jene Kinder, die sich mit SARS-CoV-2 infizierten, entwickelten doppelt so häufig ein Diabetes-Frühstadium wie Kinder ohne Covid. Nachweisbar war das über spezielle Auto-Antikörper in ihrem Blut.
Fehlten dem Immunsystem Trainingsmöglichkeiten?
Ein zweiter Erklärungsversuch für die Diabetes-Rekordzahlen weist in eine ganz andere Richtung: Einige Studien legen nämlich nahe, dass eventuell auch der Infektionsschutz während der Pandemie eine Rolle gespielt haben könnten. – Stichwort: fehlendes Training fürs Immunsystem.
«Wir haben Masken getragen. Wir haben die Hände desinfiziert. Wir sind nicht mehr rausgegangen», so Daniel Konrad vom Uni-Kinderspital Zürich. «Das Immunsystem war weniger beschäftigt mit der Bekämpfung von anderen viralen Infekten. Und vielleicht kann das dann bei einem genetisch prädisponierten Menschen die Entwicklung einer Autoimmunität fördern. Ich glaube, das wäre auch möglich.»
Echte Zunahme – oder bloss andere Verteilung?
Inzwischen ist die Zahl der Diabetes-Neudiagnosen bei Kindern jedenfalls wieder deutlich gesunken. Deshalb vermuten manche Fachleute: Langfristig betrachtet gibt es vielleicht insgesamt gar nicht mehr Fälle – sondern sie haben sich auf den Pandemiebeginn vorverlagert und dort gehäuft. Ob das wirklich so ist und ob einer oder mehrere Faktoren die vielen Diabetes-Neudiagnosen verursacht haben – das muss weitere Forschung zeigen.