Die Nachrichten sorgten auch hierzulande für Nervosität: Im Spätsommer 2019 tauchte in den USA quasi über Nacht eine bedrohliche Lungenkrankheit auf, die vor allem Jugendliche traf. Sie wurden innert Tagen schwer krank, konnten nicht mehr richtig atmen, einige verstarben.
All diese Jugendlichen hatten E-Zigaretten konsumiert – ein elektronisches Gerät, bei dem eine Flüssigkeit verdampft wird, ein sogenanntes Liquid. Das «Dampfen» galt bis dahin als ziemlich harmlos, harmloser jedenfalls als normale Zigaretten. Ende 2019 zählte die rätselhafte Epidemie 2800 Erkrankte und 70 Tote.
«Absolut fatal»
Inzwischen ist geklärt, wie es zu den Vorfällen kam. In den USA waren E-Zigaretten auf dem illegalen Markt mit Cannabis-Öl versetzt und dieses mit Vitamin-E-Azetat gestreckt worden. Manche Jugendliche manipulierten die Elektro-Dampfgeräte auch selbst mit diesen Stoffen.
«Das war absolut fatal», sagt Reto Auer, Professor für Hausarztmedizin in Bern und auf Suchtkrankheiten spezialisiert: «Wenn Vitamin-E-Azetat erhitzt wird, produziert es einen Stoff – Keten –, der extrem giftig ist für die Lunge. Den Jugendlichen hat es dadurch die Lungen regelrecht verätzt.»
Auswirkungen nicht ausreichend erforscht
In Europa gab es kaum Fälle von Lungenschäden durch E-Zigaretten, in der Schweiz keinen einzigen. «Diese Epidemie blieb auf die USA beschränkt», bilanziert Reto Auer.
Trotzdem ist der Ruf der E-Zigarette als gesündere Alternative zum Rauchen dahin. Die Lungenärztinnen und -ärzte etwa – gegenüber dem «Dampfen» schon seit jeher skeptisch eingestellt – warnen noch eindringlicher als zuvor.
Denn die Liquids, bestehend aus den Lebensmittelstoffen Propylenglycol und Glycerin, erzeugten beim Dampfen krebserregende Stoffe. Die Lungenliga Schweiz etwa rät vom Konsum ab, «da die gesundheitlichen Auswirkungen bisher nicht ausreichend wissenschaftlich erforscht sind».
Die E-Zigarette, eine Einstiegsdroge?
Und noch ein anderes Narrativ hat sich zum schlechten Ruf der E-Zigarette dazugesellt: Das Dampfen, so behaupten Lungenliga wie auch manche Politikerinnen, führe in die Nikotinsucht; E-Zigaretten seien das Einfallstor, das «bei Minderjährigen den Einstieg ins Rauchen erleichtert.» Was ist dran an den Vorwürfen?
Reto Auer kennt sich in der Schweiz wissenschaftlich wahrscheinlich am besten aus mit E-Dampfern. Der ehemalige Raucher, jugendliche Gelegenheitskiffer und heutige Medizinprofessor war an zahllosen Studien beteiligt, in denen die Inhaltsstoffe von E-Zigaretten untersucht wurden.
Reto Auer gibt zu: Die Inhaltsstoffe von E-Dampfern seien zwar nicht harmlos und teilweise tatsächlich krebserregend. Doch in der Bilanz des Berner Suchtspezialisten zählt vor allem der Vergleich mit der normalen Zigarette: «Von 1000 Personen, die rauchen, stirbt die Hälfte, also 500 Personen, an den Folgen der Tabaksucht. Bei den E-Dampfern sterben zwischen 0 und 50 auf 1000 Personen. Das Dampfen ist also mindestens zehnmal weniger gefährlich.»
Auch den Vorwurf, das Dampfen sei eine Einstiegsdroge in die Nikotinsucht und verführe letztlich zum Rauchen, lässt Reto Auer so nicht gelten. Diese Vorstellung beruhe auf einer veralteten Theorie aus den 1970er-Jahren: der sogenannten Gateway-Theory; «gateway» bedeutet Zugang, Portal oder Einfallstor.
«Damals wurde behauptet, wer einmal Cannabis probiere, werde über kurz oder lang heroinsüchtig und lande an der Nadel», erklärt Reto Auer. So hätten auch die Behörden ihre «Say-no-to-drugs»-Kampagne begründet.
Doch inzwischen wisse man, dass das falsch sei: «Risiken einzugehen und Substanzen auszuprobieren gehört zum Flüggewerden von Jugendlichen dazu. Die allermeisten hören später mit Drogen wieder auf, nur ein kleiner Teil wird süchtig.»
Beim Dampfen sei es ähnlich: Es gebe zwar Studien, die den Zusammenhang belegen, dass jugendliche Dampfer später zur Zigarette greifen. «Doch diese Studien verwechseln Korrelation und Kausalität – sie beweisen nicht, dass Dampfen zum Rauchen führt», sagt Reto Auer.
Hingegen hätten die Daten von 80'000 Jugendlichen des National Youth Tobacco Survey in den USA gezeigt, dass weniger als ein Prozent der Jugendlichen wegen der E-Zigarette mit Rauchen begonnen hätten. Anders gesagt: «Die allermeisten Raucher beginnen zu rauchen, egal ob sie früher gedampft haben oder nicht», so Reto Auer.
Das Nikotin-Dilemma
Trotzdem: «Das Nikotin in E-Zigaretten ist ein Problem. Es kann Jugendliche tatsächlich süchtig machen», sagt Auer. Doch der Umgang mit dem Nervengift – denn nichts anderes als das ist Nikotin – in den E-Zigaretten bringt Reto Auer in ein Dilemma: «Wir müssen einerseits unbedingt vermeiden, dass Jugendliche nikotinsüchtig werden. Gleichzeitig braucht es das Nikotin in den E-Dampfern, damit wir Rauchern eine wirksame Ausstiegshilfe anbieten können.»
Ob sich das «Dampfen» zum Rauchstopp eignet, ist umstritten. Die Lungenliga etwa empfiehlt es nicht. Jedoch haben mehrere Studien gezeigt, dass E-Zigaretten tatsächlich helfen können, vom Rauchen wegzukommen – nachhaltiger als herkömmliche Mittel wie Nikotinpflaster, Kaugummi oder Spray.
Auch das Berner Institut für Hausarztmedizin hat unter der Leitung von Reto Auer eine Untersuchung mit 1400 Teilnehmenden am Laufen. Die bisherigen Resultate seien sehr positiv.
Doch wie löst Reto Auer sein Nikotin-Dilemma? «Man soll aufhören, für Nikotin Werbung zu machen – und man soll an Jugendliche keine nikotinhaltigen Liquids verkaufen», sagt er. Dass Jugendliche das E-Dampfen ausprobieren wollen, kann der Mediziner nachvollziehen. Am gesündesten sei immer noch das Nicht-Rauchen.
Forscher schlagen sich die Nächte im Labor um die Ohren, Forscherinnen klettern auf Gletscher und Gipfel. Dank ihnen verstehen wir das Klima besser, bekommen immer schnellere Computer und müssen uns überlegen, ob wir wirklich Gentechbabies wollen.Das Wissenschaftsteam von Radio SRF taucht in die Welt der Forscherinnen und Forscher ein und bringt ihre Geschichten mit: einfach erzählt, Neugier genügt.
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